Türkeibesuch 2006: Benedikt XVI. zieht Bilanz
Bei der Generalaudienz gestern:
Liebe Brüder und Schwestern!
Wie es mittlerweile nach jeder Apostolischen Reise zur Gewohnheit geworden ist, möchte ich im Lauf der heutigen Generalaudienz die verschiedenen Etappen der Pilgerreise nachvollziehen, die ich von Dienstag bis Mittwoch vergangener Woche in die Türkei unternommen habe; eine Reise, die sich, wie ihr wisst, unter verschiedenen Gesichtspunkten als nicht leicht darstellte, die Gott aber von Anfang an begleitet hat und die deshalb so glücklich verwirklicht werden konnte.
Wie ich euch deshalb darum gebeten habe, sie mit eurem Gebet vorzubreiten und zu begleiten, bitte ich euch jetzt, euch mit mir zu vereinen, um dem Herrn für ihren Verlauf und ihren Abschluss zu danken. Ihm vertraue ich die Früchte an, die sich – so hoffe ich – aus ihr ergeben können, dies sowohl im Hinblick auf die Beziehungen mit unseren orthodoxen Brüdern als auch bezüglich des Dialogs mit den Muslimen. Vor allen Dingen möchte ich meinen herzlichen Dank gegenüber dem Präsidenten der Republik, dem Premierminister und den anderen Autoritäten erneuern, die mich mit so großer Höflichkeit aufgenommen und für die notwendigen Vorkehrungen gesorgt haben, damit alles auf beste Weise ablaufen konnte. Brüderlichen Dank erweise ich dann den Bischöfen der katholischen Kirche der Türkei und ihren Mitarbeitern für all das, was sie getan haben. Einen besonderen Dank richte ich an den Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I., der mich in seinem Haus empfangen hat, an den Armenischen Patriarchen Mesrob II., an den syro-orthodoxen Metropoliten Mor Filüksinos und an die anderen religiösen Autoritäten.
Während der ganzen Reise fühlte ich mich geistlich unterstützt von meinen verehrten Vorgängern, den Dienern Gottes Paul VI. und Johannes Paul II., die ihrerseits eine denkwürdige Reise in die Türkei unternommen haben, und vor allem vom seligen Johannes XXIII., der in den Jahren 1935 bis 1944 in diesem edlen Land päpstlicher Vertreter gewesen ist und dort ein an Zuneigung und Verehrung reiches Andenken hinterlassen hat.
In Bezug auf die Sicht der Kirche, die das II. Vatikanische Konzil vorlegt (vgl. Konstitution Lumen gentium, 14-16), könnte ich sagen, dass auch die Pastoralreisen des Papstes zur Verwirklichung seiner Sendung beitragen, die sich in „konzentrischen Kreisen“ ausdrückt: Im innersten Kreis bestärkt der Nachfolger Petri die Katholiken im Glauben, in einem mittleren begegnet er den anderen Christen und im äußersten Kreis wendet er sich an die Nicht-Christen und die gesamte Menschheit.
Der erste Tag meiner Reise in die Türkei vollzog sich im Bereich dieses dritten „Kreises“, der am weitesten ist: Ich habe den Premierminister, den Präsidenten der Republik und den Präsidenten für die religiösen Angelegenheiten getroffen und richtete dabei an letzteren meine erste Ansprache; ich habe dem Mausoleum des „Vaters des Vaterlandes“, Mustafa Kemal Atatürk, die Ehre erwiesen; ich hatte dann die Gelegenheit, vor dem diplomatischen Korps in der Apostolischen Nuntiatur von Ankara zu sprechen.
Diese intensive Reihe von Treffen bildete einen wichtigen Teil des Besuchs, dies besonders angesichts der Tatsache, dass die Türkei ein größtenteils muslimisches Land ist, das jedoch von einer Verfassung geordnet ist, die die Laizität des Staates festlegt. Es handelt sich somit hinsichtlich der großen Herausforderung, die sich heute auf weltweiter Ebene stellt, um ein beispielhaftes Land: Einerseits müssen die Wirklichkeit Gottes und die öffentliche Relevanz des religiösen Glaubens entdeckt werden, andererseits muss sichergestellt werden, dass dieser Glaube in Freiheit ausgedrückt werden kann – frei von fundamentalistischen Entartungen und fähig, jede Art von Gewalt streng zurückzuweisen. So hatte ich die günstige Gelegenheit, meine Gefühle der Wertschätzung für die Muslime und die muslimische Zivilisation zu erneuern. Gleichzeitig hatte ich Gelegenheit, auf der Wichtigkeit zu bestehen, dass Christen und Muslime sich gemeinsam für den Menschen, das Leben, den Frieden und die Gerechtigkeit einsetzen; dabei hob ich hervor, dass die Unterscheidung zwischen der zivilen und der religiösen Sphäre einen Wert darstellt und dass der Staat dem Bürger und den religiösen Gemeinschaften die wirksame Freiheit des Kultes garantieren muss.
Hinsichtlich des interreligiösen Dialogs hat es mir die göttliche Vorsehung gestattet, fast am Ende meiner Reise eine anfänglich nicht vorgesehne Geste zu verwirklichen, die sich als sehr bedeutend erwiesen hat: den Besuch in der berühmten „Blauen Moschee“ von Istanbul. Ich verharrte einige Minuten in Sammlung in jenem Ort des Gebets und wandte mich an den einzigen Herrn des Himmels und der Erde, den barmherzigen Vater der ganzen Menschheit. Mögen sich alle Gläubigen als seine Geschöpfe erkennen und Zeugnis von wahrer Brüderlichkeit geben!
Der zweite Tag brachte mich nach Ephesos, und so fand ich mich schnell im innersten „Kreis“ der Reise vor, in direktem Kontakt mit der katholischen Gemeinde. Bei Ephesos, in einer schönen Ortschaft mit dem Namen „Nachtigallenhügel“ vor der Ägäis, liegt das Heiligtum des Hauses der Maria. Es handelt sich um eine kleine Kapelle aus antiker Zeit, die um ein Häuschen herum entstanden ist. Einer sehr alten Überlieferung nach ließ es der Apostel Johannes für die Jungfrau Maria bauen, nachdem er sie mit sich nach Ephesos genommen hatte. Es war Jesus selbst gewesen, der sie einander anvertraut hatte, als er vor seinem Kreuzestod zu Maria gesagt hatte: „Frau, siehe, dein Sohn!“, und zu Johannes: „Siehe, deine Mutter!“ (Joh 19,26-27).
Die archäologischen Forschungen haben gezeigt, dass dieser Ort seit unerdenklichen Zeiten ein Ort des Marienkultes ist, der auch den Muslimen nahe steht. Diese haben es sich zur Gewohnheit gemacht, dort diejenige zu verehren, die sie „Meryem Ana“ – „Mutter Maria“ – nennen. Im Garten vor dem Heiligtum feierte ich die Heilige Messe für eine Gruppe von Gläubigen, die aus der nahen Stadt Izmir und aus anderen Teilen der Türkei und auch aus dem Ausland gekommen sind. Beim „Haus der Maria“ fühlten wir uns wirklich „zu Hause“, und in diesem Klima des Friedens haben wir für den Frieden im Heiligen Land und auf der ganzen Welt gebetet. Dort wollte ich an Don Andrea Santoro erinnern, einen römischen Priester und Blutzeugen für das Evangelium in der Türkei.
Der mittlere „Kreis“, jener der ökumenischen Beziehungen, belegte den zentralen Teil dieser Reise anlässlich des Festes des heiligen Andreas am 30. November. Dieses Fest bot den idealen Kontext, um die brüderlichen Beziehungen zwischen dem Bischof von Rom und Nachfolger Petri und dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel zu festigen, einer Kirche, die der Überlieferung nach vom heiligen Apostel Andreas, dem Bruder des Simon Petrus, gegründet worden ist. In den Spuren Pauls VI., der dem Patriarchen Athenagoras begegnet war, und Johannes Pauls II., der vom Nachfolger Athenagoras, Dimitrios I., empfangen wurde, habe ich zusammen mit Seiner Heiligkeit Bartholomaios I. diesen Gestus von großem symbolischem Wert erneuert, um den gegenseitigen Einsatz für die Fortsetzung des Weges zur Wiederherstellung der vollen Einheit unter Katholiken und Orthodoxen zu bestätigen. Um diesen festen Vorsatz zu sanktionieren, habe ich zusammen mit dem Ökumenischen Patriarchen eine Gemeinsame Erklärung unterschrieben, die eine weitere Etappe auf diesem Weg bildet. Es war besonders bedeutsam, dass dieser Akt am Ende der feierlichen Liturgie zum Fest des heiligen Andreas stattfand, bei der ich anwesend war und die mit dem doppelten Segen beschlossen wurde, den der Bischof von Rom und der Patriarch von Konstantinopel erteilten – die Nachfolger der Apostel Petrus und Andreas. Auf diese Weise haben wir gezeigt, dass an der Basis einer jeden ökumenischen Anstrengung immer das Gebet und die beharrliche Anrufung des Heiligen Geistes stehen. In diesem Bereich bleibend hatte ich in Istanbul die Freude, den Patriarchen der armenisch-apostolischen Kirche, Seine Seligkeit Mesrob II., zu besuchen sowie den syro-orthodoxen Metropoliten zu treffen. In diesem Zusammenhang erinnere ich des weiteren gerne an mein Gespräch mit dem Großrabbiner der Türkei.
Mein Besuch fand unmittelbar vor der Abreise nach Rom ihren Abschluss, indem er zum innersten „Kreis“ zurückkehrte, das heißt bei der Begegnung mit der katholischen Gemeinde, die ihrer Gesamtheit in der lateinischen Heilig-Geist-Kathedrale von Istanbul dabei war. An dieser Messe waren ebenso der Ökumenische Patriarch, der armenische Patriarch, der syro-orthodoxe Metropolit und die Vertreter der protestantischen Kirchen anwesend. Kurzum: Alle Christen waren in der Verschiedenheit der Traditionen, der Riten und der Sprachen im Gebet vereint. Gestärkt vom Wort Christi, der den Gläubigen „Ströme von lebendigem Wasser“ (Joh 7,38) verheißt, und gestärkt vom Bild der in einem einzigen Leib vereinten vielen Glieder (vgl. 1 Kor 12, 12-13), haben wir die Erfahrung eines neuen Pfingsten erlebt.
Liebe Brüder und Schwestern, ich bin mit einer von Dankbarkeit an Gott erfüllten Seele hier in den Vatikan zurückgekehrt – und mit Gefühlen der aufrichtigen Zuneigung und Wertschätzung für die Einwohner der geliebten türkischen Nation, von denen ich mich angenommen und verstanden gefühlt habe. Die Sympathie und die Herzlichkeit, die sie mir trotz der unvermeidlichen Schwierigkeiten, die mein Besuch für den normalen Ablauf ihrer alltäglichen Verrichtungen mit sich brachte, entgegengebracht haben, bleiben mir in lebhafter Erinnerung; eine Erinnerung, die mich zum Gebet führt.
Gott, der allmächtige und barmherzige, möge dem türkischen Volk, seinen Regierenden und den Vertretern der verschiedenen Religionen dabei helfen, zusammen eine Zukunft des Friedens zu bauen, so dass die Türkei eine „Brücke“ der Freundschaft und der brüderlichen Zusammenarbeit zwischen West und Ost sein kann. Beten wir weiter darum, dass durch die Fürsprache der allerseligsten Jungfrau Maria der Heilige Geist diese Apostolische Reise fruchtbar werden lasse und auf der ganzen Welt die Sendung der Kirche belebe, die von Christus eingesetzt wurde, um allen Völkern das Evangelium der Wahrheit, des Friedens und der Liebe zu verkünden.
Quelle: Zenit, 6. 12. 2006