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Vollständiges Interviev

Ultimo Aggiornamento: 03/10/2007 16:41
26/07/2006 18:59
 
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Per tutti quelli, qui capiscono il tedesco ho trovato una intervista profondissima sulla pagina

br-online.de/alpha/forum

Si tratta di liturgia, di Dio, di arte, di cose personale e molto di più.
Mi piace la chiarezza della lingua e dei suoi pensieri, che non nascondono ciò che è vero (una vera malattia di numerosi teologi!), invece fanno splendere cose vere in modo realistico!

Ecco la intervista qua:



Kardinal Ratzinger: Grüß Gott, Herr Everding. Ich freue mich, Sie zu sehen.

Prof. Everding: Ich freue mich auch, und ich bin geehrt. Eminenz, wir wurden eingeladen zu einer Sendung: "Begegnung in Rom". Eine Begegnung in Rom ist natürlich für Sie eine Begegnung im Vatikan. Ist der Vatikan noch das Zentrum der Welt?

Kardinal Ratzinger: So will ich es nicht ausdrücken, aber er ist immer noch ein bedeutender geistiger Mittelpunkt, an dem sich Menschen von überall her treffen, ein Ort, der Menschen zueinander führt.

Prof. Everding: Und er ist für die Kardinäle kein Gefängnis?
Kardinal Ratzinger: Überhaupt nicht, denn die Kardinäle fliegen quer über die Welt. In jedem Flugzeug können Sie einen antreffen.

Prof. Everding: Und wenn unsere Sendung hieße: Begegnung in München? Wo würden wir uns denn da treffen?

Kardinal Ratzinger: Im Prinzregententheater.

Prof. Everding: Danke schön. Nein, ich würde mit Ihnen auf die Ratzinger Höhen am Chiemsee fahren.

Kardinal Ratzinger: Das wäre sehr gut, weil ich leider noch nie dort war.

Prof. Everding: Aber unser Gespräch wird in diesen wunderbaren päpstlichen Bibliotheksräumen stattfinden, wo wir jetzt hingehen.

Kardinal Ratzinger: Das tun wir, ja. (Professor Everding und Kardinal Ratzinger gehen in die Bibliothek)

Prof. Everding: Es ist erstaunlich. Gerade habe ich gelernt, daß über hundert Maler in nur 50 Wochen diese Bibliothek ausgemalt haben.

Kardinal Ratzinger: Das war eine große Zeit der Kunst damals.

Prof. Everding: Und - Sie wissen das alles - ich habe erfahren, daß die ganzen Konzilien der Kirchengeschichte hier abgebildet worden sind. Eben habe ich gesehen, bei einem Konzil ging es sogar so dramatisch zu, daß einer sogar seine Mitra hingeworfen hat.

Kardinal Ratzinger: Ja, ja, das kam vor. Ich weiß nicht, was hier dargestellt ist, aber es gab dramatische Konzilien.

Prof. Everding: Eminenz, darf ich fragen: Das letzte Konzil, war das ein Sprung nach vorne, oder ist da etwas stehengeblieben?

Kardinal Ratzinger: Ich würde sagen, die Geschichte springt nicht. Sie geht normalerweise manchmal schneller, manchmal langsamer voran. Und manches muß sie bewahren, manches abstoßen. Insofern ist das Konzil gemischt aus allem, würde ich sagen. Es hat große Impulse gegeben, und es gab andere Dinge, die nicht richtig aufgenommen und verstanden worden sind. Der Prozeß der Aneignung ist auch immer noch im Gang. Man kann auch gar nicht abschließend sagen, welche Kraft es für die Geschichte dann wirklich entwickelt.

Prof. Everding: Einige Kritiker sagen, der Heilige Vater wolle hinter das Konzil zurück. Stimmt das?

Kardinal Ratzinger: Nein, auf gar keinen Fall. Er ist ein Mensch, der vom Konzil zutiefst erfüllt ist. Für ihn war nach seinem Studium und allem, was er erlebt hat, das Konzil eigentlich der große Augenblick, wo er Weltkirche gelernt hat, wo er seine eigentliche Philosophie erst vollends entdeckt hat. Er ist vor allen Dingen von zwei Texten ganz erfüllt, von jenen Texten über die Kirche in der Welt von heute, die seinen eigenen Studien über den Menschen entgegenkamen. Und auch der ökumenische Gedanke hat ihn zutiefst bewegt.

Prof. Everding: Eminenz, nach dem Konzil gab es aber doch so etwas wie eine Kulturrevolution, nicht wie die chinesische, aber was die Liturgie angeht, waren doch eigentlich Dinge im Gange, die mir nicht so gefallen haben.

Kardinal Ratzinger: Ja, das kann man schon sagen. Es fiel natürlich zusammen mit diesem Generationenumbruch der 68er Jahre. Und die Kirche lebt ja nicht auf einem anderen Planeten. Sie besteht aus den gleichen Menschen, die auch die Gesellschaft ausmachen. Und so sind natürlich beide Dinge irgendwie ineinander gegangen. Es war nicht schwer, ein Mißverständnis der Liturgiekonstitution zu entwickeln, als ob nun alles anders werden müßte, als ob sozusagen die große Kultur, die darin lebt, nur noch eine Last sei, von der man sich befreien muß. Insofern hat die Kulturrevolution natürlich auch zugeschlagen als eine Form des Mißverständnisses dessen, was Erneuerung sein sollte.

Prof. Everding: Liturgie wurde oft dargestellt als Theater - und zwar wurde das despektierlich gesagt. Für mich freilich ist Theater das Schönste, das es gibt. Aber daß der Priester als Showmaster auftrat, verzeihen Sie bitte diesen Ausdruck, daß aus dem sinnerfüllten liturgischen Geschehen nun plötzlich nur noch ein sinnliches Geschehen wurde, das hat mich doch gestört.
Kardinal Ratzinger: Ja, und das stört auch mich, denn der Priester ist eben kein Showmaster. Da gibt es andere, die besser ausgebildet sind in Materien, wo es auch dazu paßt. Während er in der Liturgie als Person zurücktreten sollte, weil er dort den anderen darstellt und vertritt, auf den allein es ankommt, nämlich Christus. Ich glaube, das ist auch die große Gefahr einer neuen Klerikalisierung, wenn alles am Priester liegt oder am Liturgiekreis, der das vorbereitet, und wenn wir nicht mehr einfach in ein großes Geschehen hineintreten, das weit über uns hinausreicht, uns vorausgeht und uns irgendwohin führt, wohin wir selber gar nicht reichen.

Prof. Everding: Der Weihrauch verschwand, und statt dessen gab es den Tanz um den Altar. Die Liturgiereform sollte ja nur die Gläubigen näher bringen an das Geschehen. Aber hat es sie näher gebracht?

Kardinal Ratzinger: Ich glaube nicht. Man hat nämlich eben zu sehr nur noch an Versammlung, nicht mehr an Sammlung gedacht, näher kommt man sich eigentlich nur, wenn man gesammelt ist, weil man dann in die Mitte geht, in der man sich berührt und aufeinander trifft. Wenn die äußeren Elemente so sehr überwiegen - das Mitmachen, jeder muß etwas tun, jeder muß eine Rolle haben -, dann bleibt man gerade im Äußeren stecken, und dieses innere Zueinanderkommen, das durch die Bewegung des gemeinsamen Glaubens stattfindet, das fällt dann eigentlich aus.

Prof. Everding: Gerade in diesen Tagen werden Sie immer wieder gefragt, und zwar immer dieselben, sehr dringlichen Fragen. Sie wissen: Zölibat und Frauenordination und Abtreibung und Verhütung. Das will ich heute nicht fragen, denn Sie haben das, wie ich glaube, sehr präzise in Ihrem letzten Buch "Salz der Erde" beantwortet.

Kardinal Ratzinger: Man soll es auch nicht immer wieder breit treten. Man soll einfach mal versuchen, die größeren Zusammenhänge zu erkennen, um die es geht.

Prof. Everding: Hat es Sie nicht stutzig gemacht, daß dieses Buch selbst im "Spiegel" eine so gute Kritik bekommen hat?
Kardinal Ratzinger: Das hat mich wirklich sehr gewundert. Aber es ist doch eigentlich ein sehr positives Zeichen, daß es auch Objektivität gibt und daß es die Möglichkeit des Zuhörens gibt, wo man sie gar nicht vermuten würde. Ich denke, daß es sehr wichtig war, daß das Buch nicht einfach von mir geschrieben worden ist, sondern daß es im Wort entstanden ist, im Gespräch.
Prof. Everding: Mich hat besonders gefreut, das werden Sie verstehen, daß dieses Buch ein Dialogbuch ist. Denn der Dialog, das ist meine Welt. Ich muß mit Sängern, mit Schauspielern sprechen, ich spreche mit Autoren ...

Kardinal Ratzinger: ... das sind sicher nicht immer ganz leichte Dialoge...

Prof. Everding: ... nicht leicht, nein. Aber Sie sind auch immer im Dialog. Sind Sie noch im Dialog mit der Welt, oder sind Sie nur im Dialog mit Bischöfen, dem Papst und Gott?
Kardinal Ratzinger: Das ist natürlich schwer zu entscheiden. Aber da würde ich auch wieder sagen, die Bischöfe leben vielleicht manchmal etwas zu sehr im Abstand von der Welt, aber im Großen und Ganzen sind auch Bischöfe ein Stück Welt. Wir reden in der Tat überwiegend mit Bischöfen und Menschen der Kirche. Aber wir reden auch mit anderen Menschen, weil ja gerade heute, wo es diese großen Probleme der politischen Ethik, der medizinischen Ethik und der Sozialethik gibt, Menschen aus diesen Bereichen zu uns kommen und das Gespräch wünschen. Das geht sogar weit über die Möglichkeiten hinaus, die ich habe. Daher kann man, glaube ich, nicht sagen kann, daß wir uns nur in einem klerikalen Kerker bewegen und uns selber bespiegeln. Die Realität von heute ist so stark, daß man mit ihr durchaus konfrontiert wird und daß sie einen schon anrührt.

Prof. Everding: Ich merke bei mir, daß ich meine Studenten, die ja so überflutet werden von Bildern und von Worten, eigentlich erst wieder dialogfähig machen muß. Viele können gar nicht mehr sprechen und sich ausdrücken.

Kardinal Ratzinger: Ja, das ist, denke ich, ein Problem unserer Fernsehwelt. Wir sind ja jetzt auch fürs Fernsehen da, man sieht und hat kein wirkliches Gegenüber mehr. Wenn das nicht da ist, muß man eben schauen, wie man zueinander redet. Insofern kann andererseits das Fernsehen aber auch ein Zwang dazu werden, daß man zuhört, daß man dann wieder redefähig wird. Aber ich glaube schon, daß das eine Generation ist, die das wirkliche Sprechen miteinander wieder neu erlernen muß.
Prof. Everding: Fühlen Sie sich eigentlich noch verstanden, wenn Sie schreiben und reden, hört man Sie, versteht man Sie?
Kardinal Ratzinger: Ja, es kommt drauf an. Es gibt natürlich eigentliche theologische Bücher, die vielleicht etwas weit weg sind von dem Denken und der Sprache der Menschen. Aber dieses Buch mit Seewald hat gezeigt, daß ich dann, Gott sei Dank, doch - wenn eben der Zwang des Dialogs da ist - heraustreten kann aus dem elfenbeinernen Turm der Fachlichkeit und daß die Fragen, die zu bereden waren, die Menschen von heute doch berühren. Denn die Fragen, wie lebe ich recht, wie lebe ich falsch, sind ja Fragen, die jeden Menschen immer wieder angehen.

Prof. Everding: Hier kommen wir an einer Vitrine vorbei, da sind die Komödien von Terenz kommentiert und beschrieben.

Kardinal Ratzinger: Ein schönes, altes römisches Theater.

Prof. Everding: Warum gibt es zwischen Kirche und Kunst eine solche Sprachhemmung? Warum ist fast eine Sprachlosigkeit da? Sind wir so furchtbar anders?

Kardinal Ratzinger: Nein, das glaube ich nicht, aber ich würde etwas unterscheiden. Zum einen denke ich, gibt es nach wie vor einen guten Dialog. Ich habe ein Buch zu Hause "Münchner Kunstszene 1955 bis 1982". Etwa ein Drittel der Dinge sind im kirchlichen Auftrag entstanden, weil die Kirche einfach Kunst braucht. Die Liturgie kommt gar nicht aus ohne Kunst. Man muß singen, man braucht Bilder. Schon das zweite Konzil von Nicäa hat das entschieden, der Kirchenbau selbst muß mehr sein als ein purer Zweckbau. Insofern gibt es einen Dialog. Auf der anderen Seite ist es richtig, daß sich mit der Säkularisierung der Gesellschaft nach der Aufklärung die Gesellschaft und die Kirche auseinander entwickelt haben und die Kirche ins Ghetto der historistischen Kunst gegangen ist, aus dem sie jetzt wieder herauskommen muß.

Prof. Everding: Wenn ich mich in der Sixtinischen Kapelle umschaue, da hat Michelangelo gemalt, Perugino, alle zeitgenössischen Maler haben dort gemalt. Heute sind solche Maler nur bei Amnesty International oder ähnlichen Organisationen zu finden. Es ist keine Begegnung mehr da!
Kardinal Ratzinger: Eben. Das ist dieses Auseinanderdriften von Gesellschaft und Glaube, das sich seit der Aufklärung immer mehr verstärkt hat. Andererseits denke ich, die Kunst braucht große Objekte. Wenn sie nicht mehr vom Göttlichen handelt, dann verliert sie irgendwie ihre oberste Dimension. Und umgekehrt braucht die Kirche Menschen, die kühn sind, die das Gewohnte durchbrechen und nicht bloß historistische Neugotik machen, obwohl es da auch gute Sachen gibt. Insofern werden wir uns immer wieder zusammenraufen müssen.

Prof. Everding: Was war denn Ihr erstes Kunsterlebnis?

Kardinal Ratzinger: Ich würde sagen, ich habe die Liturgie selbst als Kunst empfunden. Und dann waren natürlich für mich das erste große Kunsterlebnis 1941 die Salzburger Festspiele.

Prof. Everding: Sehr beachtenswert. Aber Sie haben auch Marionettentheater gespielt - auf einem Dachboden, wie ich gelesen habe.

Kardinal Ratzinger: Richtig. In Tittmoning, als wir noch ganz kleine Buben waren, hatte ein Freund von uns ein Marionettentheater, und dieser Dachboden war für uns voller Geheimnisse. Es war natürlich ein ganz besonders herrliches und inspirierendes Erlebnis, das ich nie vergesse.

Prof. Everding: Kardinal Meißner hat einmal gesagt, Sie wären der Mozart der Theologie.

Kardinal Ratzinger: Das ist zu höflich.

Prof. Everding: Aber Sie haben zu Mozart schon eine besondere Beziehung? Welche denn?

Kardinal Ratzinger: Ich liebe ihn einfach sehr, und ich würde sagen, es ist eine Liebe, die wie jede große Liebe kein eigentliches "Warum" hat, die man nicht rational begründen muß, sondern ich spüre darin einfach die Größe des Schönen, der Wirklichkeit selbst. Es ist nichts Künstliches, nicht Anbiederndes darin. Ich würde sagen, diese Musik ist einfach schön, wie die Schöpfung schön ist.

Prof. Everding: Und es ist nicht nur schöne Musik. Es ist auch psychologisch begründete Musik. Sie erfaßt den ganzen Menschen.

Kardinal Ratzinger: Er war ein Mensch, der gelitten hat, der nicht irgendwie ein abgesondertes Dasein in einem künstlerischen Elysium geführt hat, sondern der gelitten hat bis zum letzten Tag. Und die Kraft und das Erfahren und das Erleiden des Lebens ist in seiner Musik eben vorhanden.
Prof. Everding: Darin ist auch etwas Sensationelles. In der "Zauberflöte" schreibt er ja: "Frau und Mann reichen an die Gottheit heran". Das traut sich heute schon keiner zu sagen, was er damals gesagt hat.

Kardinal Ratzinger: Ja, in dieser an sich ganz einfachen Poesie, die trotzdem Goethe begeistert hat, steckten einige ganz große Intuitionen.

Prof. Everding: Und jetzt wollen wir unser Gespräch fortsetzen im Lesesaal. Ich war da soeben, da lesen die Studierenden, da gibt es auch Laptops und all das moderne Zeug - das gibt es eben auch im Vatikanischen Museum. Aber es gibt auch herrliche Dinge dort. Ich habe ein Botticelli-Original gesehen, Luther-Briefe habe ich gesehen und auch einen Petrus-Brief. Den kann er aber nicht selbst geschrieben haben, oder?

Kardinal Ratzinger: Nein, ein Autograph von ihm gibt es nicht, aber es ist der älteste Papyrus - er geht zurück auf das zweite Jahrhundert. Insofern ist hier große Geschichte gegenwärtig, die für uns nie bloß Vergangenheit ist. Es ist auch in unserem eher bescheideneren Archiv der Glaubenskongregation so - das ist ein Archiv von etwa 450 Jahren -, daß wir viel Vergangenheit haben, aber daß das ständig auch Gegenwart ist, weil wir in der Kontinuität einer Geschichte leben, die weitergeht und doch kontinuierlich bleibt.

Prof. Everding: Und nun wollen wir unser Gespräch im Lesesaal der Vatikanischen Bibliothek fortsetzen, andiamo.

Kardinal Ratzinger: Andiamo. (Professor Everding und Kardinal Ratzinger gehen in den Lesesaal)

Prof. Everding: Wovor haben Sie Angst?

Kardinal Ratzinger: Angst habe ich vielleicht vor dem Zahnarzt oder auch vor anderen medizinischen Behandlungen. Sonst habe ich eher Sorge, daß es mir nicht gelingt, etwas richtig auszudrücken, etwas richtig zu verstehen, daß ein Gespräch schiefgeht, das in einer wichtigen Sache zu führen ist. Dann denke ich natürlich auch an das letzte Gericht.

Prof. Everding: Ich habe Angst vor dem gerechten Gott. Ich hoffe auf den lieben Gott.

Kardinal Ratzinger: Ich hoffe ja, es ist ein und derselbe. Trotzdem denke ich, es ist schon gut, wenn man auch immer den gerechten Gott im Blick hat und weiß, daß man nicht einfach wurschteln darf.

Prof. Everding: Im Credo hieß es doch früher, "abgestiegen zur Hölle". Dann hieß es "zur Unterwelt" oder "zu den Toten". Wissen Sie, was mich interessiert: Der Dialog, den Christus geführt hat, als er nach Karfreitag hinunter in die Hölle fuhr - was er da mit den Verdammten oder mit den Wartenden besprach. Haben die ihn ausgeschimpft, oder hat er denen Hoffnung auf Erlösung gemacht? Was war das für ein Dialog?

Kardinal Ratzinger: Wir wissen es natürlich nicht, aber immerhin, der erste Petrusbrief gibt uns einen Anhaltspunkt, es wird da nämlich gesagt, daß er ihnen das Evangelium verkündete. Das heißt, er kommt und sagt, das ist ein Lichtblick. Insofern ist das Herunterkommen jedenfalls natürlich für die, die sich ihm endgültig verweigern, wie ein Blitzstrahl. Aber für die, von denen Petrus spricht, ist es der Augenblick, in dem das Gefängnis aufgeht. Und so haben es auch viele Väter verstanden. Es gibt eine sehr schöne Homilie von Epiphanias aus dem vierten Jahrhundert, daß er kommt und sagt, ich sperre auf, ich habe die Macht über den Tod, ihr könnt heraus. Das ist nach der alten Überlieferung der eigentliche Inhalt dessen, was er sagt und tut: Er nimmt Adam und Eva - nach diesen Bildern - und zieht sie heraus. Und das heißt, er zieht die Menschheit heraus.

Prof. Everding: Also ist die Übersetzung "er stieg hinab zur Hölle" doch falsch. Wenn man in der Hölle ist, ist man doch ausgeschlossen vom Heil.

Kardinal Ratzinger: Nun, das Wort Hölle ist eben früher ein vielfältiges Wort gewesen, das einfach die Totenwelt im Ganzen mit all den Wartenden ausdrückte, also nicht eigentlich die ganz Verdammten, sondern alle die, die wartend und im Ungewissen stehen und die jemanden brauchen, der die Kraft hat und der sie heraufzieht.

Prof. Everding: Also das Theaterstück möchte ich immer noch geschrieben sehen, das den Dialog zwischen diesen Wartenden oder Verdammten mit Christus zum Inhalt hat.

Kardinal Ratzinger: Vielleicht schreiben Sie es uns, und es wird dann wirklich mal ein echtes, großes Drama. Denn auf den Bühnen fehlt jetzt eigentlich diese Dreistöckigkeit, die sie früher so spannend machte: Himmel, Hölle, Erde gehörten dazu, so ist es ja noch beim "Faust" - dann erst ist die Welt groß und interessant.

Prof. Everding: Aber die meisten meiner Zuhörer wollen keine Stücke mehr aus der Hölle. Sie meinen, auf der Erde oder im Himmel wäre es schön. Hölle ist ihnen zu nahe, und sie meinen auch, Hölle wäre gar nicht so dramatisch. Es heißt doch "aus der Tiefe, Herr, schrei ich zu dir" Es ist ja nicht schön in der Hölle, nicht wahr?

Kardinal Ratzinger: Nein, lustig ist es nicht. Aber es gab oder gibt sie auch noch, diese "Stockwerke", aus denen man herausgeholt werden kann. Und irgendwie hatte ja Sartre nicht so ganz Unrecht. Die Menschen sind imstande, sich die Erde selbst zur Hölle zu machen. Dann rufen sie auch aus der Hölle herauf und wollen es zwar nicht zugeben, aber es ist so. Ich glaube, das ist heute doch in vielen Situationen der Fall, sowohl in der reichen Welt, wie in der Welt der Bedrückten. Wenn wir jetzt an all die Situationen des Bürgerkriegs, der Selbstzerfleischung der Menschen denken: Wie viele Menschen rufen sozusagen aus der Hölle zu Gott herauf und wissen gleichzeitig, in diese Hölle reicht er herunter, weil wir herauf wollen?

Prof. Everding: Es gibt so viele Bösewichter und so viele Gute auf der Welt. Bei mir im Theater ist es so: Es ist viel leichter, die Bösewichter zu spielen. Warum ist das so viel leichter, als einen Heiligen zu spielen? Ist der langweilig?
Kardinal Ratzinger: Wir stellen ihn uns langweilig vor, weil wir das Gefühl haben, er ist dann ganz ausgeglichen, der ärgert sich nicht mehr und der schreit niemanden mehr an, der macht nichts mehr verkehrt, und es kommt uns natürlich langweilig vor. Ich glaube in der Tat, daß es für uns leichter ist, sozusagen den Bösewicht oder einfach den ringenden, unfertigen Menschen darzustellen. Denn der, der angelangt ist, der gehört irgendwie nicht mehr zu unserer eigenen Erfahrungswelt. Insofern haben wir davon keine Anschauung und können ihn auch nicht richtig darstellen. Wir können ihn sozusagen auf den Stufen des Weges darstellen. Aber dann? Alles andere ahnen wir nur noch.

Prof. Everding: Und heilig gehen ist schwer, dramatisch gehen ist leicht.

Kardinal Ratzinger: Das sind Dinge, die wir nur von Ferne ahnen, die wir in der Liturgie irgendwie darstellen, die aber das Drama unseres realen Lebens schon überschreiten.

Prof. Everding: Herr Kardinal, Sie wurden einmal gefragt: Wie viele Wege gibt es zu Gott. Und Ihre, mich völlig überraschende, Antwort war: So viele, wie es Menschen gibt. Ich habe diese Antwort nicht erwartet. Ich hätte gedacht, Sie würden antworten: Der Weg geht immer noch nur über die Kirche.

Kardinal Ratzinger: Ja, aber Gott hat eben Phantasie. Er hat nach unserem Glauben jeden einzelnen Menschen geschaffen, also mit jedem Menschen etwas Spezifisches vor und für jeden seinen Weg bereitet. Natürlich hängen die Wege untereinander zusammen. Und wenn man sie dann aus der Tiefe betrachtet, stellen wir fest, daß sie alle ein einziger Weg sind, weil, wie wir glauben, Christus der Weg ist. Er ist ja keine ferne historische Gestalt, sondern er ist in der lebendigen Kirche vorhanden. Aber man kann sozusagen auf vielfältigste Weise auf diesem Weg sein und jeder hat wirklich seinen ganz besonderen Weg, den eigentlich letztendlich nur er und Gott kennen.

Prof. Everding: Aber es gibt nicht viele Wahrheiten, oder?

Kardinal Ratzinger: Das nicht. Nein, es geht ja auch nicht so, daß jeder Mensch etwas Gegensätzliches tun könnte. Es gibt eine grundsätzliche gemeinsame Menschlichkeit. Diese eine Menschlichkeit - zu der die Nächstenliebe gehört, zu der der Respekt des Rechtes des Anderen gehört - konkretisiert sich aber in so vielen Formen wie das Leben bunt und in verschiedenen Lebenssituationen und Jahrhunderten anders ist.

Prof. Everding: Sie können sich vorstellen, warum man diese Antwort von Ihnen nicht erwartet, weil man Sie für viel pragmatischer oder für viel strikter hält. Und das hat auch viele verwundert, darf ich sagen, als Sie sagten, daß es einen Abschied gibt von den Volkskirchen mit den zu vielen Institutionen und daß Sie eigentlich einen Weg sehen, der mehr die kleinen Gemeinden umschließt und die Minderheitenkirchen. Das war für mich ein sehr überraschender Gedanke und auch, daß es etwas mehr von Europa weggeht, mehr nach Afrika und mehr nach Asien hin.

Kardinal Ratzinger: Das ist bei mir einfach die Folge eines Realismus. Denn ich sehe, daß die ganze geistige Entwicklung, wie sie mindestens seit der Aufklärung - aber sicher schon viel länger - vorhanden ist, dazu führt, daß Christentum, Christsein und Glauben zu einer Entscheidung des Einzelnen wird, die nicht mehr von der Gesellschaft vorgegeben ist. Infolgedessen richtet sich die Gesellschaft in vielfältigen anderen Vorstellungen und Lebensformen ein. Die scheinbare Deckungsgleichheit zwischen Kirche und Gesellschaft, wie sie in der Barockgesellschaft noch da war, löst sich auf. Statt dessen wächst eher ein Entscheidungschristentum heran, das in einem gewissen Grad auch ein Minderheitschristentum ist. Das darf allerdings nicht bedeuten, daß wir uns ins Ghetto zurückziehen und sagen, wir sind wir und die anderen sind die anderen, sondern wir haben durchaus eine Botschaft und eine Verantwortung für das Ganze.

Prof. Everding: Und Europa, das doch so sehr durch das Christentum gebildet und aufgebaut ist, ist doch ohne Christentum fast nicht denkbar.

Kardinal Ratzinger: Eben, das sind wir uns vielleicht gar nicht bewußt, wie viele christliche Grundstrukturen wir in Europa noch haben. Die ganze Struktur der Woche, des Festes, der Familie usw. Auch wenn das alles jetzt in die Krise gerät, ist das Grundgefüge aber doch vom Christentum her gebaut. Und auch wenn nun die anderen Kontinente sozusagen mit gleichem Recht in das Konzert der Geschichte eintreten, ist Europa immer noch ein Quellpunkt der Kreativität, der Kultur und des Denkens - darin ist gar kein Zweifel.

Prof. Everding: Wir spüren doch jeden Tag, wenn etwas gegen die Gesellschaft gemacht wird, dann fordert man gleich härtere Gesetze. Aber bei der Kirche fordert man immer eine Lockerung der moralischen Gesetze.

Kardinal Ratzinger: Ja, das sind die Widersprüchlichkeiten, die es eben in unserer Gesellschaft nun einmal gibt. Ich glaube, daß im Stillen aber auch bei vielen die Erwartung da ist, daß die Kirche doch der Menschheit hilft, ihren moralischen Grundwasserspiegel zu halten - auch wenn die, die dann betroffen sind, sich ärgern und etwas gegen den Stachel löcken.

Prof. Everding: Darf ich mir erlauben zu fragen, wie Sie reagieren, Eminenz, wenn Sie "Panzerkardinal" genannt werden oder sogar "Großinquisitor"? Ich meine, Sie haben dieses Amt und setzen es ja fort. Wie reagieren Sie da?

Kardinal Ratzinger: Ja, nun. Das finde ich so karikatural, daß es mich nicht aufregt, denn der Begriff "Panzerkardinal" ist von Leuten gemacht worden, die eine bestimmte Idee von den Deutschen haben. Ich bin nun mal ein Deutscher und habe bestimmte Sachen entschieden, dann sagt man eben, er ist ein "Panzerkardinal". "Großinquisitor" ist eine historische Einordnung. Irgendwo stehen wir in der Kontinuität, aber wir versuchen auch, das, was nach damaligen Methoden zum Teil kritisierbar wurde, jetzt aus unserem Rechtsbewußtsein heraus zu tun. Aber man muß doch sagen, daß Inquisition der Fortschritt war, daß nichts mehr ohne "Inquisitio" verurteilt werden durfte, das heißt, daß Untersuchungen stattfinden mußten. Ein Rechtsbewußtsein steckte auch darin.

Prof. Everding: Ich hätte die Begegnung ja auch gerne in Ihrem Uffizio gehabt. Kennen Sie die Geheimarchive Ihre Amtes?

Kardinal Ratzinger: Ja. Also ich meine, es gibt keine Kerker mehr, es gab da wohl natürlich Haftzellen. Die sind aber nicht mehr da. Das Archiv aber ist schon noch vorhanden, und wir sind dabei, dieses Archiv der Öffentlichkeit, d.h. natürlich nur der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, zugänglich zu machen. Wir wollen einfach die Regeln, die das Vatikanische Archiv hat, auch bei uns anwenden. Das stößt noch auf Schwierigkeiten, weil die Räume noch nicht modern genug sind. Jedenfalls ist es so, daß ich es kenne. Wir sind auch dabei, unsere alten Bestände zu restaurieren und interessante Bestände herauszugeben: Im Sommer werden wir einen ersten Band herausgeben. Wir versuchen also schon, dieses Archiv, das so geheimnisvoll ist, ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen.

Prof. Everding: Wie reagieren Sie auf den Satz von Professor Küng, wenn der sagt: "Ratzinger vertritt mit moderner Terminologie ganz mittelalterliche Positionen." Stimmt das?
Kardinal Ratzinger: Man muß natürlich fragen, was unter mittelalterlich zu verstehen ist. Also ich sehe das Mittelalter nicht so finster, wie es vielleicht - ich weiß es nicht - Küng ansieht. Aber vor allen Dingen bin ich der Meinung, daß wir als Katholiken einen Glauben haben, der sich entfaltet, der mit dem Glauben Israels beginnt, der seinen eigentlichen Kristallisationspunkt im Glauben des Neuen Testamentes hat und den alle Generationen auf ihre Weise zu leben versuchten. Da ist die Kontinuität der Generationen wichtig, vor allem die Kontinuität im Wesentlichen. Ich hoffe, das gleiche zu glauben wie der heilige Paulus.

Prof. Everding: Warum wurde die Welt durch das Christentum nicht besser? Jetzt haben wir schon 2000 Jahre Christentum, und immer war angestrebt, daß es doch etwas besser wird, und es ist immer noch so schlecht. Warum hat das Christentum fast nichts bewirkt?

Kardinal Ratzinger: Das ist natürlich eine große Frage, die jeden gläubigen Menschen sehr bedrängt. Aber ich denke, man muß da eben an die Freiheit der Menschen denken und daran, daß die Geschichte nicht einfach ein Kontinuum ist, in dem es wie bei der Entwicklung von Apparaten und dergleichen Dingen sozusagen immer weitergeht. Statt dessen ist jede Generation neu, jede kann wieder abfallen, jede kann es wieder ganz anders machen. Das heißt, solange Freiheit bleibt, ist die Entwicklung der Geschichte nicht einfach ein Kontinuum - weder zum immer Besseren noch zum immer Schlechteren -, sondern immer das Abenteuer neuen Beginns. Das muß man eben, glaube ich, sehen.

Prof. Everding: Aufregend ist der Gedanke, daß dieser sozialistische Optimismus, den wir ja einmal gehabt haben - von null immer weiter bis tausend -, zerbrochen ist.

Kardinal Ratzinger: Ja.

Prof. Everding: Sie haben gesagt, mit jedem Menschen fängt eine neue Geschichte an, die Geschichte geht nicht kontinuierlich weiter.

Kardinal Ratzinger: Diese sozialistische Idee würde voraussetzen, daß es eigentlich die Freiheit nicht mehr gibt, sondern daß die Mechanismen des Sozialstaats so stark sind, daß jeder schon so sein muß, wie es für ihn vorgeplant ist. Und das ist eben Gott sei Dank nicht der Fall.

Prof. Everding: Sie wissen, Pasolini hat aber gefordert, die Kirche müßte eigentlich in die Opposition gehen. Stimmt das?

Kardinal Ratzinger: Ich würde es nicht so apodiktisch sagen, es gibt auch vieles, bei dem die Kirche zustimmen soll. Sie muß nicht einfach aus Grundsatz dagegen sein, sondern sie muß unterscheiden. Es gibt auch in der modernen Gesellschaft ganz vieles, dem wir zustimmen können, wo wir uns nicht einfach darauf festlegen können, daß wir auf der Oppositionsbank sind. Aber recht hat Pasolini darin, daß jede Gesellschaft versucht ist, sich in Lebensformen einzuhausen, die dann irgendwo ungerecht und unmenschlich werden, und daß daher Opposition immer nötig ist. In diesem Sinn muß die Kirche wirklich immer den Mut haben, auch gegen das, was gerade herrschend ist, in Opposition zu gehen - nicht unkritisch, es gibt eben immer wieder auch viel Gutes. Aber der Mut zur Opposition, gerade in besonders geläufigen Dingen, der muß da sein.

Prof. Everding: Gerade in diesen Tagen der Begegnung mit Rom sehe ich wieder diese Fülle und auch diesen Kulturluxus. Viele Menschen sagen dann, "die Kirche ist doch viel zu reich". Ich stimme dem nicht zu, ich denke da immer an das Bertolt Brecht-Wort: "Kultur ist ein Luxus, ja, aber ein Luxus, für den es sich zu leben lohnt." Kardinal Meißner hat gesagt, die Kirche muß wieder ärmer werden. Das Gut der Kirche ist wichtiger als die Güter der Kirche.

Kardinal Ratzinger: Ja, das ist ein Wort von Pius X. Das bezog sich damals auf den Kampf, ob man bei der Trennung von Staat und Kirche in Frankreich die angebotene Verfassung übernehmen sollte, durch die der Staat das Eigentum der Kirche zwar übernommen, aber der Kirche zur Verfügung gestellt hätte. Nach Meinung des Papstes wäre die Kirche damit unfrei geworden. Er hat dann gesagt, nein, das Gut ist wichtiger als die Güter, dann werden wir eben ganz arm. Und das muß auch, denke ich, schon ein Grundsatz der Kirche sein, daß das Gut über die Güter geht. Andererseits glaube ich, wenn das Gut da ist, bringt es auch immer wieder Güter hervor. Man sieht es ja an den Klöstern, daß einfach die Demut der Menschen, die nichts für sich wollten, dann gerade große Dinge schafft, die zur Last werden können, die zu einem Panzer werden können, der erdrückt. Dann muß man die Freiheit haben, sich zu lösen. Aber Kulturfeindschaft darf daraus nicht werden.

Prof. Everding: Nein, das Zitat von Kardinal Meißner war anders. Er hat gesagt und gemeint, daß die Kirche eine zu große Karosserie mit einem zu kleinen Motor ist.

Kardinal Ratzinger: Ja, da würde ich sagen, ist in Deutschland schon etwas dran. Es ist ja in den Ländern sehr verschieden, nicht wahr. Aber wir sind, denke ich, in Deutschland - das habe ich ja in meinem Buch, auf das Sie angespielt haben, gesagt - wirklich überinstitutionalisiert, so daß uns der Panzer von Einrichtungen, die alle aus großen Initiativen entstanden sind, hinter denen aber nicht mehr genug Leben steht, allmählich zu erdrücken droht.

Prof. Everding: Etwas feuilletonistisch ausgedrückt: Die Kirche müßte ärmer werden, um reicher zu werden.

Kardinal Ratzinger: Ja, genau so.

Prof. Everding: Wirklich aufregend an Ihrem Buch - auf das wir heute nicht so ausführlich eingehen können - fand ich, daß Sie betont haben, wie sehr wir doch eine jüdische Kirche sind: Christus als Jude und als Mensch, wenn man das überhaupt trennen kann, und daß uns da eigentlich eine ganz neue Einstellung abgefordert wird.

Kardinal Ratzinger: Ich glaube, daß wir das jetzt wirklich neu erlernen müssen und daß darin vielleicht auch das nachträglich Heilbringende der schrecklichen Geschehnisse liegen kann, daß wir uns neu auf diese unsere Wurzeln besinnen und daß wir diese große Erbschaft des Glaubens Israels von Abraham her wirklich als unsere eigene Grundlage erkennen und dadurch natürlich auch eine neue Einstellung zu unseren jüdischen Freunden erlernen.

Prof. Everding: Als Theatermann darf ich Sie das fragen: Was ist für Sie eigentlich das Drama unserer Geschichte?

Kardinal Ratzinger: Das ist schwer zu sagen, aber das Drama ist, daß der Mensch immer wieder ein Versagender ist, daß er eben leichter böse als gut sein kann - zumindest dem Anschein nach - und daß infolgedessen dieses Drama immer wieder vor Zusammenbrüchen steht, bei denen man das Gefühl hat, es geht eigentlich gar nicht mehr weiter und sich die Geschichte dann aber doch irgendwie wieder weiterbewegen kann.

Prof. Everding: Und eine Entscheidung zur Liebe wird da wohl auch das Drama sein, ob man ja oder nein zur Liebe sagt.

Kardinal Ratzinger: Das ist der eigentliche Kernpunkt im Drama eines jeden Menschenlebens, ob das gelingen kann.

Prof. Everding: Sie haben aber auch - und das finde ich so wichtig für die Krisenbeschreibungen unserer Zeit - die Vermischung von Wahrheit und Unwahrheit angeprangert. Gerade die Medien sind ja nicht ganz unschuldig daran, da sie doch immer eher über das Sensationelle und vielleicht Unwahre berichten, als über das unsensationelle Wahre.

Kardinal Ratzinger: Ich möchte jetzt natürlich nicht in eine Medienbeschimpfung ausbrechen. Das wird uns immer vorgeworfen, aber das liegt, glaube ich, im Wesen des Mediums selbst, daß es das Aufregende, das Spannende bevorzugt und daß damit natürlich die alltäglichen Dinge, die eigentlich die Welt zusammenhalten, kaum in Erscheinung treten können und damit, sagen wir, die Gewichte zwischen dem Wesentlichen und Unwesentlichen verschoben werden. Und dann gibt es eben einen Punkt, auf dem ich immer etwas bestehe: Die Menschen sind ja beim Ereignis selbst nicht dabei, aber sie sehen den Bericht über das Ereignis, der notwendigerweise schon eine Interpretation und eine Auswahl ist. Am Schluß wird der Bericht wichtiger als das Faktum selbst. Das heißt, wir fangen an, immer mehr vom Schein und von der Erscheinung zu leben und damit dann auch für die Erscheinung zu produzieren. Auch die Politiker, auch die Kirchenleute sind in der Gefahr, daß sie nicht mehr fragen: Was ist jetzt eigentlich das Richtige?, sondern: Was wird ankommen, wie wird es berichtet werden, wie wird es angenommen werden? Das heißt, daß man schon gar nicht mehr für die Wirklichkeit und nach den Maßstäben, die einem dafür das Gewissen vorgibt, sondern für die Erscheinung handelt, die man machen wird. Und diese Knechtschaft, in die Menschen des öffentlichen Lebens, Politiker wie Kirchenmänner, sehr leicht geraten können, wäre dann natürlich wirklich verhängnisvoll, wenn man nicht mehr nach dem handelt, was eigentlich als gut erkennbar ist, sondern gemäß der Frage, was erscheint gut und wie erscheine ich - und so zum Knecht seiner eigenen Erscheinung wird.

Prof. Everding: Eminenz, wir sprachen eben beim Thema Liturgie darüber: Auch da sind doch viele Pfarrer darauf bedacht, was ankommt, und nicht, worauf es ankommt.

Kardinal Ratzinger: Das ist einer der großen Krisenpunkte, und ich glaube schon, daß das auch mit ein Punkt ist, der den Rückgang der Kirchenbesucher erklärt - ein Punkt unter vielen -, daß der Pfarrer sich zu sehr als den Mittelpunkt der Liturgie versteht, selber erscheinen will und auch erscheint, und dann eben auch danach fragt, was seine Leute annehmen. Damit sinkt natürlich die Sache immer weiter ab, weil jedesmal wieder noch einmal nachgegeben werden muß. Dann spüren die Menschen doch, er redet uns eigentlich nach dem Mund und sagt gar nicht das, was er sagen sollte. Es bleibt dieses schlechte Gefühl, daß er eigentlich schon danach fragt, was die Leute mögen. Und dann fühlen sich die Leute doch natürlich billig verkauft.

Prof. Everding: Dasselbe bewegt mich im Theater. Wenn ich dem Geschmack nachlaufe, habe ich volle Häuser, wenn ich einen Geschmack bilden will, habe ich nicht immer volle Häuser.

Kardinal Ratzinger: Da ist ja doch irgendwie auch immer eine erzieherische Pflicht vorhanden, die dann die Menschen auch wieder heraufzieht und damit weiterführt.

Prof. Everding: Als Vater von vier Söhnen begegnet mir oft der Satz: "Du mit der Religion, Du mit Deiner Religion". Was ist das Wesentliche der Religion?

Kardinal Ratzinger: Daß es Gott gibt und daß er uns kennt, und daß wir von ihm her einerseits einen Maßstab haben, wie man lebt und wie man stirbt und andererseits von ihm her eine Hoffnung haben und wissen, daß wir nicht ins Leere hineinleben. Ich glaube, beides ist wichtig, der Maßstab, der uns fordert, aber auch die Hoffnung, die uns hält.

Prof. Everding: Und daß man über sich hinausdenkt und nicht bei sich bleibt.

Kardinal Ratzinger: Genau, daß man sich selbst überschreiten kann und muß.

Prof. Everding: Etwas Schönes hab ich darüber auch in Ihrem Buch gefunden, daß nämlich Glaube und Kunst Freude geben können. Sie haben den Satz gesagt: "Wir können fliegen, weil wir uns selbst nicht mehr schwer nehmen." Kirche nimmt sich oft sehr schwer in ihren Forderungen. Aber wir freuen uns, daß wir fliegen können, wir in der Kunst und Sie auch. Mit der Dogmatik kann man fliegen?

Kardinal Ratzinger: Ich denke schon, weil sie uns über das heraushebt, was wir mit der reinen Empirie feststellen könnten. Durch die Empirie der Apparate, die so vieles leistet, für das wir dankbar sind, sind wir aber doch an das gebunden, was wir in die Hand nehmen können, was wir zerkleinern können. Wir sind richtig an die Erdenschwerkraft gebunden. Selbst, wenn wir dann zum Mond oder noch viel weiter hinauffliegen, ist ja alles wieder Erde, nicht wahr, und wir bleiben doch in Wirklichkeit in der Gravitation des Materiellen stecken. Der Glaube öffnet eine andere Dimension. Da hebt es uns herauf, wir können fliegen. Es kommt ja auch in den Psalmen vor: Petrus sagt, ich bin ein Spatz, der bei dir wohnt. Und das ist keine Selbsterniedrigung, sondern er will sagen, indem ich bei dir fliege, bin ich leichter geworden, die Erdenschwere ist weg.

Prof. Everding: Drei Jahre vor der Jahrtausendwende: Sie können es uns auch nicht sagen, keiner weiß, was es uns bringt. Der Heilige Vater hat einmal gesagt, nach der Trennung des letzten Jahrtausends wird es eine Einigung geben. Haben Sie auch diesen Optimismus?

Kardinal Ratzinger: Ich würde sagen, man muß immer hoffen. Wenn ich extrapoliere, was jetzt nach unserem menschlichen Ermessen erwartbar ist, wenn ich rein danach gehe, dann sehe ich zwar Ansätze dafür, aber ich würde es nicht futurologisch extrapolieren können. Aber als Hoffnung, würde ich sagen, müssen wir das vor uns sehen. Andererseits ist es doch richtig, daß in diesem Jahrhundert seit dem Ende des Ersten Weltkriegs zusehends Aufbrüche zur Einheit geschehen sind. Es sind immer neue Spaltungen geschehen, immerfort zerspalten wir uns, aber ein großer Aufbruch in Einheit ist seit dem Ende des Ersten Weltkriegs wirklich da. Und insofern ist es zwar eine Hoffnung, die wir jetzt nicht empirisch bestätigen können, aber die auch nicht fundamentlos ist. Der Papst hat eben diese geschichtsphilosophische Idee, wenn man so sagen will, das zweite Jahrtausend war wirklich ein Jahrtausend von Spaltungen. Warum sollte nicht das neue jetzt wieder ein Jahrtausend der Einigungen sein? Ob wir es wissen oder nicht, wir sollten auf jeden Fall daraufhin handeln und daraufhin leben.

Prof. Everding: Ganz offenbar wird doch eine Sehnsucht nach Werten wieder sichtbar. Ich meine, für die Kirche ist so ein Wechsel nach zweitausend Jahren nur ein Lidschlag. Was heißt das schon? Das ist doch überhaupt gar nichts. Chiliastische Ängste haben wir nicht mehr.

Kardinal Ratzinger: Haben wir nicht und Gott sei Dank nicht, obwohl auch es Leute gibt, die solche Ideen verbreiten. Aber das ist Gott sei Dank einstweilen marginal. Aber eine Herausforderung ist so ein Datum doch. Was haben wir getan in dieser Zeit? Wie wollen wir weitergehen? Und da, glaube ich, ist es eben auch wichtig, daß gerade die Erfahrung der Lehre, die - wenn man so will - nach der Befreiung vom Dogma eingetreten ist, den Menschen zeigt, daß man nicht nur so einfach dahinleben kann. Der Mensch braucht einen Anspruch, den er sich nicht selbst macht, sondern dem er unterstellt ist und der ihn bindet. Erst dann zieht es ihn wirklich hinauf, und er wird er selbst.

Prof. Everding: Was sagen Sie zu dem Satz von Karl Rahner: "Der Christ der Zukunft wird Mystiker sein oder er wird nicht mehr sein."? Ich habe es schwer damit.

Kardinal Ratzinger: Ja, da habe ich schon öfters Stellung nehmen müssen. Wenn man darunter verstehen würde, daß alle Leute ungefähr Erlebnisse wie die Heilige Theresia von Avilar haben müssen, um Christen zu sein, dann ist er ganz bestimmt falsch. Wenn man sagen wollte, daß New Age - so eine Versenkungstheorie - die neue Religion sein würde, dann wäre er auch falsch. Wenn man sagen will, der Christ muß in Zukunft ein persönliches Verhältnis zu Christus haben, dann ist er richtig, dann stimmt er mit dem zusammen, was wir vorhin erwähnt haben, daß eben Christsein nicht mehr einfach vorgegeben wird durch die Gesellschaft, durch das Brauchtum, sondern in einer persönlichen Beziehung wächst. In dem Sinn sollte man den Satz auffassen, nicht erwarten, daß jetzt alle Leute weiß Gott wie tiefe mystische Erfahrungen haben sollen. Aber daß man Christ nur sein kann, wenn man doch wirklich in einer lebendigen persönlichen Beziehung zu Christus lebt.

Prof. Everding: Eminenz, Sie kennen die Kirchengeschichte so genau und wissen alles, was bei Papstwahlen passierte. Ich referiere mal so das neunte Jahrhundert: Glauben Sie wirklich, daß bei der Papstwahl der Heilige Geist mitwirkt?

Kardinal Ratzinger: Ich würde nicht sagen in dem Sinn, daß der Heilige Geist den jeweiligen Papst heraussucht, denn da gibt es zu viele Gegenbeweise, da waren doch viele da, die der Heilige Geist ganz evident nicht herausgesucht hätte. Aber daß er insgesamt die Sache nicht aus der Hand läßt, uns sozusagen wie ein guter Erzieher an einem sehr langen Band läßt, sehr viel Freiheit läßt, aber es nicht ganz abschnappen läßt, das würde ich schon sagen. Das wäre also in einem viel weitläufigeren Sinn aufzufassen und nicht so, daß er sagt, jetzt habt ihr den zu wählen. Wohl aber läßt er nur das zu, was die Sache nicht total zerstören kann.

Prof. Everding: Und Sie vertreten als Kardinal die Kirche nicht in ihrer Drohbotschaft, sondern in ihrer Frohbotschaft?

Kardinal Ratzinger: Ich denke, Christentum ist an sich zum Freuen da, wir hatten gestern noch die Lesung, die ich ein bißchen ausgelegt habe: Abraham sah meinen Tag und freute sich. Den Tag Christi sehen, heißt sich freuen. Aber wir müssen doch das andere dazu nehmen, was wir vorhin gesagt haben, das Gericht darf nicht herausfallen. Es gibt das Gericht, wenn man das wegnimmt, dann wird Christentum kitschig. Dann wird es nur eine Art von Selbstbestätigung. Es hat ja auch seine moralisierende Kraft, wenn man so will, in der Geschichte dadurch bewiesen, daß sich dann auch die Mächtigen vor Gott fürchten mußten. Wenn man so im Mittelalter sieht, was die alles angestellt haben, am Schluß haben sie doch versucht, es wieder gutzumachen, weil ihnen plötzlich der Gedanke kam, ich werde ja vor dem Richter stehen. Und wenn das den heutigen Magnaten auch wieder einleuchten würde, wäre es keine schlechte Sache.

Prof. Everding: Ist Ihr Amt eine Lust oder eine Last?

Kardinal Ratzinger: Eine Lust ist es jedenfalls nicht, aber ich würde sagen, ein Mensch, der keine Last zu tragen hätte, dem nichts auferlegt wäre, würde ja leer leben. Und insofern gehört eine richtige und sinnvolle Last - die Herausforderung eines Berufes mit seinen Größen und seinen Tiefen - zum Leben dazu. Wenn jemand arbeitslos ist, könnte man jetzt rein vom äußeren Anschein her sagen: Der hat nichts mehr zu tun, wie wunderbar. Das war doch früher der Traum der Münchner, Privatier zu sein, privatisieren zu können. In Wirklichkeit wissen wir, daß es eine schreckliche Last ist, wenn man arbeitslos ist. Zwar strengt die Arbeit an und ist mühsam, aber gerade von dem Drama und Trauma der Arbeitslosigkeit her begreifen wir wieder, daß Arbeit, so schwer sie ist, schön ist und gut ist.

Prof. Everding: Und der Psalmist hat ja so hervorragend gesagt, "dein Packesel bin ich geworden, und geradeso bin ich bei dir", und Sie Gott sei Dank bei uns. Sie wollten eigentlich Gelehrter bleiben als Exeget, als hervorragender Exeget. Aber Sie wurden von Gott, wenn ich das sagen darf, als Zugtier ausgewählt, der den Karren Gottes zieht. Ist es schwer und schön?

Kardinal Ratzinger: Schwer und schön, ja. Ich meine, die Zeiten sind mühsam und die Wege sind steinig, und der Esel, der ich selber bin, hat eigentlich nicht immer Lust ihn zu ziehen oder möchte gerne wo anders hingehen. Und der Karren ist schwer. Insofern ist es mühsam, gerade mit all dem Kleinkram auch, den man täglich machen muß, wir sind ja nicht immer in den erhabenen Höhen der Dogmatik und der großen Intuitionen, sondern oft in ganz gewöhnlichen kleinen Dingen. Aber es ist eben doch auch schön zu wissen, daß man gebraucht wird, daß man eine Aufgabe tut, die für die Menschheit auch wichtig ist, und man weiß, ich mache nicht, was ich mir privat ausgedacht habe, sondern ich gehorche einem Auftrag.

Prof. Everding: Hoffen oder warten Sie auf ein neues Konzil?

Kardinal Ratzinger: Nein, würde ich sagen. Ich hab schon öfter die schöne Geschichte erzählt, die mir der verstorbene Kardinal Correteiro von Pakistan sagte, er war beim Synodenrat mit Kardinal Döpfner und anderen zusammen, und irgendeiner von den Anwesenden hat gesagt, ach, vielleicht sollten wir ein neues Konzil haben. Kardinal Döpfner habe beide Hände in die Höhe gehoben und gesagt: "Not in my lifetime!". Und ich würde sagen, Konzile sind große Ereignisse, die die Kirche durcheinanderwirbeln und sie erneuern, aber die eben verdaut werden wollen, und die man nicht alle 20 Jahre machen kann.

Prof. Everding: Eminenz, ich hatte schon viele Begegnungen - natürlich meistens weltlicher Art -, aber diese mit Ihnen hier im Vatikan wird mir unvergeßlich bleiben. Vor allem auch deshalb, ich darf das als Schauspielmann sagen, weil Sie - so eingetaucht ins Heilige - so sachlich, unfeierlich sprechen. Mich hat das gefreut, und ich hoffe, diese Begegnung wird auch unseren Zuschauern unvergeßlich bleiben. Danke schön.

Kardinal Ratzinger: Herzlichen Dank meinerseits.
27/07/2006 18:05
 
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Interview
studiosus,

danke, daß du dieses wunderbare Interview ausgebraben hast. Einige Szenen daraus wurden ja auch schon im Fernsehen gezeigt.


Kardinal Ratzinger: Überhaupt nicht, denn die Kardinäle fliegen quer über die Welt. In jedem Flugzeug können Sie einen antreffen.



Mir ist dieses Glück bisher leider versagt geblieben. [SM=g27827]:
06/08/2006 14:30
 
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Mir ist dieses Glück bisher leider versagt geblieben.


mir leider auch, aber das liegt wohl daran, dass ich im flugzeug immer sofort schlafe [SM=g27822] und den kardinal schlichtweg ausblende. hinzu kommt, dass mir die herren im rentenalter noch nicht sooooo sehr ins auge fallen (bis auf einen natürlich) [SM=g27816] !
aber der nächste flug "zu papa" [SM=x40790] [SM=g27836] steht ja unmittelbar bevor, dann werde ich die augen mal gaaaaaaanz intensiv offen halten [SM=g27829] .

ciao

benedetto.fan
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12/02/2007 18:25
 
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Eine Vorabmeldung von kath.net
08. Februar 2007

'Religion ist nie cool. Religion macht glühend'

Kardinal Kasper im Streitgespräch mit dem Philosophen Peter Sloterdijk: Der Mensch ist von seinem Wesen her religiös - Die Säkularisierung in Westeuropa in den letzten 300 Jahren eine Sonderentwicklung, die wir sonst nirgends finden

Hamburg (www.kath.net) Das wiedererstarkte Interesse an Religion zeigt sich in zunehmenden Besucherzahlen Roms. "Es gibt eine enorme Zunahme der Pilger- und der Touristenströme. An Sonntagen sind zwischen 50.000 und 60.000 Menschen auf dem Petersplatz, der Papst kann mittwochs seine Audienzen gar nicht mehr in der Audienzhalle halten", sagt Walter Kardinal Kasper in der neuesten Ausgabe der Zeitung "ZEIT". In einem Streitgespräch mit Peter Sloterdijk debattierten der hochrangige Geistliche und der Philosoph über das Wiedererstarken der Religionen und den Konflikt zwischen Islam und Christentum.

Es zeige sich, so der Kardinal, "dass der Mensch von seinem Wesen her religiös ist und dass in ihm diese Frage brennt". Die Säkularisierung in Westeuropa in den letzten 300 Jahren sei "eine Sonderentwicklung, die wir sonst nirgends finden". Nun aber kämen "manche Fragen zurück, weil die Selbstbefreiung, die es seit der Aufklärung gibt, ihre Verheißungen nicht erfüllt und Enttäuschung hervorbringt", sagt Kardinal Kasper.

Sloterdijk widerspricht dem Geistlichen: "In meinen Augen ist diese relative Entchristianisierung Europas, die seit der Französischen Revolution stattgefunden hat, doch eine recht fundamentale Tatsache. Man sollte in ihr nicht nur eine Anomalie sehen." Die Religion liefere nicht mehr "das Interpretationsmodell für alle Lebensbereiche".

Kardinal Kasper räumt ein, dass es "ein Wesen und ein Unwesen der Religion" gibt. "Religion ist nie cool. Religion macht glühend. Natürlich kann das in Fanatismus umschlagen, aber es kann sich auch in Liebe, in den Einsatz für Gerechtigkeit, für Frieden und Freiheit in der Welt umsetzen und so unglaubliche Kräfte freisetzen


Anmerkung: Der Kauf der Printausgabe der Zeit lohnt sich trotz des untenstehenden Streitgesprächs. Es gibt darin noch mehr interessante Artikel zum Thema "Religion".

[Modificato da @Andrea M.@ 12/02/2007 18.40]

12/02/2007 18:32
 
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Ein interessantes Streitgespräch
»Religion ist nie cool«

Glaube schien in Europa erledigt. Jetzt ist er wieder da. Warum nur? Der Papstvertraute Walter Kardinal Kasper und der Philosoph Peter Sloterdijk im Streitgespräch

DIE ZEIT: Herr Kardinal, man spricht von einer Wiederkehr der Religionen. Ist das hier in Rom, im Vatikan, im Zentrum einer Weltreligion, zu spüren?

Walter Kardinal Kasper: Es gibt eine enorme Zunahme der Pilger- und der Touristenströme. An Sonntagen sind zwischen 50.000 und 60.000 Menschen auf dem Petersplatz, der Papst kann mittwochs seine Audienzen gar nicht mehr in der Audienzhalle halten. Allerdings hat die »Wiederkehr der Religionen« eine gewisse Ambivalenz. Zum Teil kommen wieder Praktiken in Übung, die man früher als Aberglauben bezeichnet hätte. Grundsätzlich zeigt sich nach unserer Auffassung aber, dass der Mensch von seinem Wesen her religiös ist und dass in ihm diese Frage brennt. Die Säkularisierung, die Westeuropa in den letzten 300 Jahren erlebt hat, ist eine Sonderentwicklung, die wir sonst nirgends finden. Offensichtlich kommen manche Fragen nun zurück, weil die Selbstbefreiung, die es seit der Aufklärung gibt, ihre Verheißungen nicht erfüllt und Enttäuschung hervorbringt.

ZEIT: Stimmen Sie dem zu, Herr Sloterdijk?

Peter Sloterdijk: Auch ich würde sagen, es tauchen Grundstrukturen in der menschlichen Daseinsverfassung wieder deutlicher auf, ich möchte diesen Sachverhalt aber mehr sprachphilosophisch akzentuieren: Der Mensch ist ein sprechendes Wesen, doch nicht alles, was er sagt und gesagt bekommt, liegt auf derselben Ebene. Es gibt gewissermaßen eine Sprache in der Sprache. Die formuliert die Sätze, mit denen man Orientierungen über das Dasein zum Ausdruck bringt. Lange hat ein gewisser linguistischer Nihilismus geherrscht: Alles, was gesagt wird, ist gleichbedeutend. Inzwischen stellt sich heraus, dass es unter den Dingen, die gesagt werden, einige gibt, die bedeutender sind als andere. Was heute im Zeitgeist umgeht, ist das Empfinden, dass wir nach einer langen autoritätsvergessenen Zeit ein Sensorium für autoritative Worte wiedergewinnen. Sie sehen: Ich brauche das Wort »Religion« zunächst noch gar nicht.

ZEIT: Herr Kardinal, kehren mit der Religion auch die Gefahren des Eiferertums, des bewaffneten Missionarismus zurück?

Kasper: Es gibt ein Wesen und ein Unwesen der Religion. Das Unwesen kann bis zur Verbindung von Religion und Gewalt gehen. Das Wesen der Religion hingegen würde ich in dem ursprünglichen Sinn des Wortes sehen: Religio heißt »Rückbindung«. Der Mensch kann das Ganze seiner Daseinsbedingungen nicht »aufklären«; er weiß sich rückgebunden an eine »höhere Macht«. In religiöser Sprache: Da ist ein Geheimnis. Da gibt »es« noch etwas, was heilig ist, das sich letztlich meiner Verfügung entzieht und mit dem ich mit Respekt und mit Ehrfurcht umgehen muss: Das ist die ursprünglich religiöse Haltung.

Sloterdijk: Ich kann von meinem Zugang her den Unterschied zwischen Wesen und Unwesen der Religion nicht in derselben Weise machen wie ein Bekenner eines Glaubens. Ich würde auch nicht mehr von Religion im Allgemeinen sprechen, sondern von den monotheistischen Religionen, die durch ihren universalistischen Anspruch gefährdet sind, ein hohes polemogenes, also Streit schürendes, Potenzial freizusetzen. Dass Menschen heute auf dem Basar der religiösen Möglichkeiten relativ frei navigieren können, um sich ihre Privatsynthese zusammenzustellen, ist unbestritten. Die Sorge, die wir uns vor dem Hintergrund der erlebten Geschichte jetzt machen, ist aber, ob wir so etwas wie die »friedliche Nutzung der monotheistischen Energien« erlernen können.

Kasper: Dass Religion schädlich, zerstörerisch angewandt werden kann, ist nicht zu bestreiten – wir sehen es beim Problem des Islamismus, wir kennen es auch aus der Geschichte des Christentums. Aber das Positive wird schon auf der ersten Seite der Bibel klar: Gott schafft den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis. Das ist, Hunderte von Jahren vor Christus, eine Revolution: ein Gott, der nicht nur für ein Volk oder eine Gruppe zuständig ist, sondern für den Menschen, unabhängig von ethnischer, kultureller oder anderer Zugehörigkeit. Aus dieser Sicht des Monotheismus weiß sich die Menschheit als eine große Familie. Das führt indirekt zu dem, was man in der Neuzeit die allgemeinen Menschenrechte genannt hat. Sie sind zum Teil gegen das Christentum erkämpft worden, aber sie haben christliche Fundamente.

Sloterdijk: Bei meiner Energie-Metapher schweben mir allerdings noch weitergehende Analogien mit der Reaktortechnologie vor. In dem Augenblick, wo Menschen sehr nahe an den Glutkern der monotheistischen Glaubensregungen herankommen, werden sie selbst glühend, potenziell bis zur Weißglut erhitzt. Wenn man anfängt, »im Namen des Höchsten« zu sprechen, dann gibt es eine starke energetische Reaktion. Der Mensch kommt bei sich selbst an unerhörte motivationale Quellen heran.

ZEIT: Ist der Papst glühend, Herr Kardinal, oder empfinden Sie ihn als cool?

Kasper: Ich würde natürlich sagen: Er ist glühend. Religion ist nie cool. Religion macht glühend. Natürlich kann das in Fanatismus umschlagen, aber es kann sich auch in Liebe, in den Einsatz für Gerechtigkeit, für Frieden und Freiheit in der Welt umsetzen und so unglaubliche Kräfte freisetzen. Bis heute werden Menschen glühend im Einsatz für andere und verglühen darin sogar.

Sloterdijk: In einer solchen Existenz wie der des Papstes ist natürlich eine Art Glutkern anzunehmen. Aber ohne Dämpfung geht es auch nicht. Es ist ja die große Leistung des institutionalisierten Christentums, dass, um im Bild zu bleiben, in ihm eine hoch entwickelte Reaktortechnologie entstanden ist. Was bei naiven Gemütern leicht eine durchbrennende Manie ergäbe, kann hier durch eine sehr elaborierte Psychotechnik, durch asketische und meditative Übungen und durch erlernbare Formen der spirituellen Prüfung auf ein lebbares Format zurückgebracht werden. Das ist der Reiz einer sowohl ethisch wie dogmatisch sehr ausgereiften und tief durchdachten Institution: dass sie ihre eigenen Gefahren normalerweise besser kennt als ihre externen Kritiker.

Kasper: Damit berühren wir die positive Seite des institutionellen Aspekts der Religion und der Kirche. Institution ist nicht nur Grenze von Freiheit und Charisma. Indem sie der Willkür und der chaotischen Freiheit Grenzen setzt, ermöglicht, schützt und setzt sie verantwortete Freiheit frei. Sie kanalisiert charismatische Aufbrüche und stellt sie damit sozusagen auf Dauer.

ZEIT: Vor 20 Jahren hätte man gesagt: Das Christentum an sich ist gut, aber die Amtskirche verdirbt das Ganze. Jetzt dreht sich das eher um: Religion ist eine sehr bedenkliche Sache, aber gut, dass es so etwas wie Kirche gibt.

Sloterdijk: Der romantische Zeitgeist ist abgeflaut, und während man früher pausenlos an Subversion dachte, ist man inzwischen dankbar für jedes Molekül stabiler Struktur. Dass sonst die wesentlichen Dinge nicht funktionieren, angefangen bei der Erziehung – das ist für meine Generation die entscheidende Entdeckung. Deshalb verläuft heute eine tiefe Grenze zwischen denen, die Kinder haben, und denen, die keine haben. Vom Kind her denkt man die Wirklichkeit neu, genauso wie die eigene Haltung gegenüber den Institutionen. Dass wir nach wie vor sinnlose autoritäre Verkrustungen für absurd halten, darüber streiten wir uns gar nicht mehr.

ZEIT: Herr Kardinal, Sie haben vorhin die europäische Säkularisierung als eine Art Ausnahmefall bezeichnet. Wird sie einfach wieder verschwinden?

Kasper: Man kann kulturgeschichtlich nicht rückwärts gehen; es geht immer vorwärts. Aber die Idee von der fast naturgesetzlich fortschreitenden Säkularisierung haben inzwischen alle maßgebenden Religionssoziologen aufgegeben. In Amerika gibt es schon lange die Gegenthese von der persistence of religion, dem Fortbestand der Religion.

Sloterdijk: In meinen Augen ist diese relative Entchristianisierung Europas, die seit der Französischen Revolution stattgefunden hat, doch eine recht fundamentale Tatsache. Man sollte in ihr nicht nur eine Anomalie sehen. Auch die Entpolitisierung der Religion ist eine hohe Errungenschaft. Im Ökosystem der modernen Kultur hat die Tätigkeit, die man »glauben« nennt, einen anderen Stellenwert bekommen. Die Religion liefert nicht mehr das Interpretationsmodell für alle Lebensbereiche. Das System der modernen Medizin hat sich ausdifferenziert, genauso wie das System der Erziehung. Religionsunterricht ist selbst zu einem Schulfach unter anderen geworden; die Religion ist nicht selbst primär Träger des Schulwesens. Die Arbeitswelt hat sich ausdifferenziert, die Rechtswelt, das politische System, die Wissenschaft. Die Religion kann in all diesen Bereichen über die Stufe einer Präambel nicht mehr hinauskommen. Es ist vielleicht denkbar, dass dem hippokratischen Eid ein paar christliche Formeln vorangestellt werden, aber das ist es dann auch.

Kasper: Ich bin mit dem Bild der Präambel nicht ganz einverstanden, oder genauer: mit Ihrer Deutung des Bildes. Die Präambel, im Grundgesetz etwa, hat ja eine weitergehende Funktion, sie wirft Licht auf das Ganze, sie erstellt den Horizont, unter dem das Kommende gelesen werden muss. Insofern ist Religion nicht einfach ein Teilbereich, sondern fragt nach dem Sinnzusammenhang des Ganzen: Was soll das alles, warum und wozu sind wir da, warum bemühen wir uns? Religion will damit nicht die legitime Autonomie von Politik, Wissenschaft oder anderen weltlichen Sachbereichen aufheben. Sie fragt nach dem Übergreifenden und Umgreifenden. Damit kann und muss sie freilich auch Grenzmarkierungen aufstellen. Die moderne Gentechnologie, die moderne Medizin überhaupt, kann Großes leisten. Aber bestimmte Dinge darf man nicht tun, weil sie die Würde des Menschen tangieren.

ZEIT: Zum Thema »Wiederkehr des Religiösen« und zum Dialog der Kulturen sagt die katholische Kirche: Der Westen muss seinen eigenen, christlichen Glauben wiederentdecken, um mit dem Islam dialogfähig zu sein. Sie, Herr Sloterdijk, haben in Ihrem Buch Zorn und Zeit eine weniger freundliche Sicht des Christentums entwickelt: Es tabuisiere »thymotische« Impulse wie Stolz, Ehrgefühl und Rachebedürfnis – und gerade das mache die Verständigung mit der muslimischen und arabischen Welt schwer.

Sloterdijk: Das Christentum steht in einer Linie mit ethischen Entwicklungen, die ins erste Jahrtausend vor Christus zurückzuverfolgen sind, in denen der menschliche Hochmut, wie man das damals zu nennen beliebte, in den Vordergrund der Kritik gerückt ist. Man wollte damals, im Interesse der Imperienbildung, einen Menschen, der in einer Welt des Dienens und Gehorchens funktionieren kann. Das hat man in der orientalischen Sphäre und in Asien mit dem größten Erfolg versucht, aber auch in der westlichen Antike. Das Interesse am Menschen, der gehorchen kann, führt zur Entdeckung des Egos als der Kraft, die anders will. Das liebe Ich will nicht so, wie der Herr will. Daher ging auch die Psychopolitik des Christentums darauf aus, den Menschen so zu prägen, dass er seinen Stolz fallen lässt und das Eigene zurückstellt zugunsten des Ganzen – wobei das Ganze sich in der Gestalt des Vorgesetzten zu verkörpern pflegt.

ZEIT: Der Unterschied zum Islam?

Sloterdijk: Der Islam hat eine ganz andere Entwicklung durchlaufen: Er ist eine weißglühend thymotische Kultur.

ZEIT: Thymotisch im Sinne von Rachegefühl, Stolz und Ehre…

Sloterdijk: …auch dort gibt es demütige, stille, introvertierte Haltungen, die uns stark an unsere eigene ältere Tradition erinnern, weil auch dort der Gedanke der Hierarchie sehr stark ist. Vom ethnischen Substrat her aber ist immer noch ein unglaublich heftiges Maß an thymotischer Virilität gegeben. Ich habe in meinem Buch versucht anzudeuten, dass der Westen ohne eine gewisse thymotische Neubesinnung in einer solchen Konfrontation schlecht aussieht.

Kasper: Es stimmt, dass sich christlich inspirierte Ethik gegen den Hochmut des Menschen wendet. Aber das bedeutet nicht, dass das Christentum für den Kleinmut optiert. Sie, Herr Sloterdijk, argumentieren eigentlich wie Nietzsche: Alle Zimmer sind niedrig geworden, und man muss durch noch niedrigere Türen hindurch. Das Christentum hat aber eine unglaubliche Widerstandsgeschichte hinter sich. Während der Christenverfolgung haben die Christen dem imperialen Anspruch des Kaisers widerstanden und sind dafür in den Tod gegangen. Da war schon thymotische Energie da! Männer wie der Kirchenvater Ambrosius, der Bischof von Mailand war, sind kraftvolle Naturen gewesen. In dem erst vor kurzem vergangenen Jahrhundert hat es Hunderttausende von Blutzeugen des Glaubens gegeben, die nicht in die Knie gegangen sind vor den neuen Götzen und den neuen Baalen. Die Alternative zum Hochmut ist nicht der Kleinmut, sondern die Demut.

ZEIT: Auch der Gehorsam?

Kasper: Einer der größten Theologen, Thomas von Aquin, hat gelehrt, dass die menschlichen Antriebskräfte, auch die Aggression, nicht per se etwas Schlechtes sind – nicht die Unterdrückung dieser thymotischen Energie, sondern die Ausrichtung auf das Gute und Wahre ist nötig. Der totale Gehorsam ist eine Erfindung, die im »Dritten Reich« proklamiert wurde. Ich erinnere mich noch, schließlich bin ich aufgewachsen zu dieser Zeit. Ein solches Verständnis von Gehorsam ist nie das christliche gewesen.

ZEIT: Aber müssen wir wirklich wieder christlicher werden, um im Pluralismus der Weltreligionen friedlich zusammenzuleben?

Kasper: Für Dialog und Zusammenleben sind Leute notwendig, die ihr eigenes Profil, ihre eigene Identität haben. Sonst trifft man sich auf dem niedersten gemeinsamen Nenner, was einen Kulturverlust ohnegleichen zur Folge hätte. Die Christen müssen Christen sein, und die Muslime müssen Muslime sein. Wenn sie gute Christen und gute Muslime sind, können sie auch Toleranz, die Anerkennung des Andersseins, entwickeln. Aber wenn wir aufhören, Christen zu sein, und die aufhören, Muslime zu sein – was bleibt dann noch?

ZEIT: Herr Sloterdijk hat vielleicht gar keine Lust, beim Wir der Christen dabei zu sein.

Kasper: Das ist die Entscheidung eines jeden Einzelnen.

Sloterdijk: Wir sind eben nicht nur Christen. Sehr wohl geht es um eine Reprofilierung, aber für mich ist dabei nicht die Betonung der christlichen Quellen allein von Bedeutung. Die Europäer befinden sich seit der Renaissance in einer Situation metaphysischer Mehrsprachigkeit: Wir alle sprechen gewissermaßen sowohl Christlich als auch Griechisch. Diese Doppelkultur geht sogar noch vor die Renaissance zurück, schon die Kirchenväter hatten das griechische Denken absorbiert.

ZEIT: Also nicht »mehr« christlich sein?

Sloterdijk: Wenn wir schon »mehr« von etwas sein müssen, dann würde ich sagen: Wir müssen mehr Europäer sein. Die Europäer besitzen zwei große Lektionen in politischer Theologie, die man nie ernst genug nehmen kann. Für dieses Wissen tragen wir Verantwortung – zum einen die Erfahrung des religiösen Bürgerkriegs im 17. Jahrhundert und die Erfahrung des totalitären Bürgerkriegs im 20. Jahrhundert. Vor allem der letztere gibt uns nach wie vor zu denken. Ein Teil von dem, was uns beim Monotheismus wieder Sorgen macht, ist weniger am Christentum als solchem sichtbar geworden als an seinem atheistischen Bastard, dem Kommunismus. In meinen Augen ist er so etwas wie ein Destillationsprodukt unserer christlich-humanistischen Metaphysik gewesen. Er bestand in dem Versuch, den Monotheismus zu verwirklichen unter Weglassung dessen, was die historischen Religionen ihm vermacht haben…

Kasper: …Monotheismus ohne Theos!

Sloterdijk: Das genau ist die Paradoxie, die entsteht, wenn die Menschengattung selber in die Position des Supremums, des Höchsten gesetzt wird. Es war ein anthropologischer Suprematismus, der als Kommunismus sein Wesen oder Unwesen getrieben hat. Nach seinem Scheitern hinterlässt er uns jetzt die Frage, wie es mit dieser merkwürdigen Einheit der Menschengattung steht, von der Sie vorhin gesprochen haben.

Kasper: Ich würde insofern zustimmen, als der Kommunismus verstanden werden kann als ein Säkularisat christlicher Ideen. Aber das bedeutet auch, dass man das Entscheidende weggelassen hat, nämlich dass Gott der Grund der Einheit ist und nicht wir selber eine universale Menschheit schaffen können. Das war das Titanische daran, das Totalitäre. Wir haben bisher vom Monotheismus als Abstraktum gesprochen. Aber Christentum ist kein abstraktes System, sondern es geht um eine Person, an der alles hängt. Der Gott, den Jesus Christus verkündet hat und den er als Vater bezeichnet hat, ist den Menschen wohlgesinnt, wendet sich jedem Einzelnen zu und nimmt ihn ernst, auch und gerade den Armen, den unter und zwischen die Räder Geratenen. Dies verbietet von vornherein jeden Versuch einer totalitären Deutung und sprengt ihn.

ZEIT: Woher kommen denn die Deformationen des Religiösen?

Kasper: Wenn man diesen Gottesbegriff und nicht irgendeinen abstrakt zurechtgedachten zur Grundlage macht, dann sind die genannten Deformationen von Religiosität einer prophetischen Kritik zu unterziehen. Das muss das Christentum tun: Es muss heute gegen seine Säkularisate kämpfen. Es gibt das Wort von Max Weber, dass die alten Götter wieder ihren Gräbern entsteigen und ihren ewigen Kampf wiederaufnehmen. Das ist auch ein Aspekt bei der Frage nach der Wiederkehr der Religionen. Diese Wiederkehr ist ein ambivalentes Phänomen. Unser Kriterium, von dem her wir denken, ist eine ganz konkrete Person und ihre Botschaft. Ich als Christ muss sagen: Etwas Besseres habe ich bisher nicht gefunden.

ZEIT: Herr Sloterdijk, haben Sie etwas Besseres?

Sloterdijk: Ich habe etwas Blasseres, nichts Besseres. Ich kenne die Klangfarben der christlichen Botschaft und würde mich – wenn wir schon bei Max Weber sind – im religiösen Sinne für musikalisch halten, was übrigens ein gefährlicher Satz ist, weil er das religiöse Verhältnis auf eine Begabung abbildet. Religion als Begabung beobachtet man übrigens auch in der östlichen Welt. Eine Figur wie Ramakrishna etwa, der um 1900 gelebt hat, war ein Religionsvirtuose. Er konnte sich in beliebige Glaubenssysteme hineinmeditieren und aufgrund seiner autoplastischen Talente innerhalb von 14 Tagen einen kompletten Christen simulieren, mit allem, was dazugehört – wenn er noch mal 14 Tage weitergemacht hätte, hätte er die Stigmata entwickelt.

ZEIT: Und Sie?

Sloterdijk: Ich fühle mich dem Standpunkt des protestantischen Religionsphilosophen William James am nächsten. Bei ihm habe ich die für mich sehr überzeugende Annahme gefunden, dass schon das Interesse für Religion die Religion selbst sein kann. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass ich in meiner Jugend mit mystisch orientierten Lutheranern zu tun hatte, die meinten: An der Religion ist eigentlich nur eines wichtig, nämlich die Offenheit, die Erfahrungsbereitschaft. Wenn einer eine Rose richtig anschauen kann, sagte unser Religionslehrer, dann hat er möglicherweise vom Wesentlichen mehr verstanden, als wenn er sich verbal zu Christus bekennt. In dieser Gefahrenzone bin ich seit jeher zu Hause, und so etwas wird naturgemäß mit den Jahren nicht besser.

ZEIT: Herr Sloterdijk hat das Stichwort von der europäischen Verantwortung ins Spiel gebracht, zu der man sich bekennen muss. Soll das christliche Abendland sich entschuldigen, um die Kränkungen im Rest der Welt abzubauen?

Kasper: Entschuldigen muss man sich für vieles. Der verstorbene Papst, Johannes Paul II., hat es ja auch ausdrücklich getan, auf sehr feierliche Weise am ersten Fastensonntag des Jahres 2000. Aber es geht nicht nur um Entschuldigung, sondern die eigentliche Antwort der Christen ist die Vergebung. Kein Psychoanalytiker kann die Schuld vergeben. Er kann helfen bei der Aufarbeitung, aber Vergebung heißt, jemandem die Chance eines neuen Anfangs zuzugestehen.

Sloterdijk: Aber wir können nicht Arabern oder Moslems vergeben, dass wir ihnen seit 200 Jahren kulturell und technisch überlegen sind.

Kasper: Nein, wir bitten um Vergebung für uns.

Sloterdijk: Ich glaube aber, dass auf dem moralisch komplexen Feld der historischen Schuld noch andere Ausgleichsbewegungen zu erwarten sind, die nicht mit Entschuldigungen zu erreichen sind. Die katholische Kirche hat sehr viel Ressentiment auf sich gezogen in einer Zeit, als sie stark war. Mein Großvater konnte noch mit einem richtigen antipapistischen Zorn gegen diese Herren in den Kutten polemisieren, gegen die psychopolitische Zwangsgewalt des Katholizismus. Heute, wo die Kirche viel von ihrer Gewalt verloren hat, nehmen viele Menschen an ihr eher die Geste der helfenden Macht wahr. In dem Moment, wo der Westen – und insbesondere Europa – durch seine relative weltpolitische Marginalisierung einen ähnlichen Weg in die Schwäche geht, wird er sich immer weniger eignen als Projektionsfläche für Ressentiments und apokalyptische Hassfantasmen, wie es sie im Islam zurzeit noch in sehr massiven Formen gibt. Ich denke, dass man in dem Punkt nicht nur auf den religiösen Ausnahmezustand hoffen darf, der mit Vergebung umschrieben wird, sondern auch auf die heilsame Wirkung von Kräfteverschiebungen.

Kasper: Ich bin nach 1945 im deutschen Südwesten aufgewachsen. Während des »Dritten Reiches« habe ich in der Schule gelernt: Die Franzosen sind unsere Erbfeinde, seit immer und für immer. Sagen Sie das heute einem jungen Menschen, der lacht Sie aus. Ich habe momentan viel mit Orthodoxen zu tun. Die erzählen mir von der Eroberung und Zerstörung von Konstantinopel 1204, also vor mehr als 800 Jahren, noch heute so, als ob die westlichen Kreuzfahrer erst gestern brandschatzend um die Straßen gezogen sind. Solche Geschichte rational, historisch aufzuarbeiten ist eine Möglichkeit, um weiterzukommen. Das müssen wir mit dem Islam auch tun, von beiden Seiten her.

ZEIT: Als Professor Sloterdijk erklärt hat, der Machtverlust der Kirche habe ihr im Grunde gutgetan, haben Sie genickt.

Kasper: Ja, der Verlust weltlicher Macht war ein Reinigungsprozess für die Kirche. Sie hat dadurch an geistlicher Macht, an Vollmacht, gewonnen. Die Unterscheidung von Politik und Religion hat die Kirche überzeugender und letztlich einflussreicher gemacht.

Sloterdijk: Das ist ja ein Nervenzentrum der modernen Kultur überhaupt: dass sich Autorität heute mit der Schwäche verbindet. Daran ist der Katholizismus als Modelllieferant übrigens nicht ganz unschuldig. Als der italienische Staat den Kirchenstaat verschluckt hatte und der Papst sich als Gefangener im Vatikan inszenierte, hat das die Vorstellung von der väterlichen Autorität verändert: Sie wurde von der väterlichen Gewalt zum gewaltlosen Orientierungsangebot. Hier taucht das vielzitierte »Symbolische« am Horizont auf.

Kasper: Die christliche Grundgestalt selbst, Jesus Christus, war ja ein Leidender und Sterbender. Das Kreuz ist das christliche Ursymbol. Gott entäußert sich selbst und wird schwach bis ins Sterben hinein. Insofern ist das tief im Zentrum des Christlichen verwurzelt.

ZEIT: Herr Sloterdijk hat von der metaphysischen Mehrsprachigkeit Europas gesprochen. Wahrscheinlich würde er sogar eine Art religiöser Mehrsprachigkeit für wünschenswert halten. Wie stehen Sie dazu, Herr Kardinal?

Kasper: Den religiösen Pluralismus gibt es. Dass wir lernen müssen, das zu akzeptieren, ist unbestritten. Ich als Person allerdings kann nicht religiös mehrsprachig sein. Ich kann versuchen, andere religiöse Sprachen zu verstehen und ein friedliches Verhältnis mit ihnen zu pflegen, aber letztlich entscheide ich mich als religiöser Mensch für eine Form. Religion hat mit Toleranz, aber auch mit Entschiedenheit zu tun.

Sloterdijk: In meinen Augen reicht das Phänomen der Mehrsprachigkeit weiter als die Fähigkeit, sich für ein Credo zu entscheiden. Ich kann mich nicht gegen die Tatsache entscheiden, dass mir die Griechen etwas zu sagen haben. Ich kann mich auch nicht rückwirkend dagegen entscheiden, dass mir während einer langen Periode meines Lebens die Inder etwas zu sagen hatten, die ja neben den Juden als das paradigmatische Religionsvolk der Erde eine besondere Aufmerksamkeit verdienen, weil in ihnen sozusagen das zweite Gesicht des Homo religiosus aufscheint – das nicht so sehr von der Gesetzeshaftigkeit und von der personalen Gottesbeziehung geprägt ist, sondern von einer mehr mystischen und meditativen Form. Ich habe vor kurzem einen indischen Jesuitenpater kennengelernt, der auf die natürlichste Art zwischen dem Hinduismus und dem Katholizismus hin und her geht.

ZEIT: Ein probates Modell?

Sloterdijk: Sich entscheiden zu können ist wohl selbst eine Gabe, die dem einen zufällt und anderen nicht. Ich werde ein bisschen nervös, wenn es heißt, in der Religion gehe es immer um alles oder nichts. Das heißt doch: Wirkliche Religion ist totalitär, und alles andere wären nur Verfallsformen. Das klingt so, als wenn jemand sagt: Es gibt nur eine Form von Sexualität, das ist der Sadomasochismus. Und wenn mich Gott nicht peitscht, dann ist er nicht der richtige. Ich glaube gerade umgekehrt, dass die totalitäre Form von Religion die Verfallsform ist.

Kasper: Ich würde schon sagen, dass es in der Religion um das Ganze, um das Absolute geht. Allerdings darf ich nie den Anspruch erheben, dass ich das Ganze habe und für mich beanspruchen kann. Das Ganze habe ich immer nur in einer endlichen Gestalt. So kann ich im Gespräch mit dem Hinduismus oder Buddhismus lernen – aber nicht in dem Sinn, dass ich zweisprachig werde, sondern in dem Sinn, dass meine eigene Sprache bereichert, bewusster und gefüllter wird.

Das Gespräch führten Jan Ross und Bernd Ulrich

© DIE ZEIT, 08.02.2007 Nr. 07

13/02/2007 09:03
 
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Die Tagespost zum obengenannten Streitgespräch
Die Tagespost vom 13.02.2007

Ohne Gott geht es nicht

„Die Zeit“ hat eine Diskussion über die „Wiederkehr der Religion“ veranstaltet – Das machte alte liberale Dogmen deutlich, und wie ihnen zu begegnen ist

Von Hinrich E. Bues

Ein mit Lippenpiercing und angeklebten Wimpern verziertes, junges Mädchen wirbt derzeit auf großen Plakatwänden für die neue Serie der „Zeit“ mit dem Titel: „Was soll ich glauben?“ Es geht um „Fluch und Segen“ der großen Weltreligionen in sieben Folgen. Die „Wiederkehr der Religion“ erreicht auch die liberale Hamburger Wochenzeitung und ihren Chefredakteur Giovanni di Lorenzo, der bei der Auftaktveranstaltung im Hamburger Museum für Völkerkunde am 9. Februar mit Vertretern unterschiedlicher Glaubensrichtungen debattieren will. Wird diese Diskussion musealen Charakter tragen?

Die 300 Plätze im großen Hörsaal des Museums sind begehrt; das öffentliche Interesse an der Auftaktveranstaltung unter dem Titel: „Ohne Gott geht es nicht!?“ übertrifft die Erwartungen. Die Tickets sind bereits seit Tagen ausverkauft, denn die Talkrunde von gegensätzlichen Charakteren und Glaubenswelten verspricht spannend zu werden: Der Alt-Revolutionär Daniel Cohn-Bendit, der Linkspartei-Vorsitzende Lothar Bisky, der evangelische Theologe Friedrich Graf und die Schriftsteller Martin Mosebach, Navid Kermani sowie Henryk M. Broder versprechen einen spannenden Abend zwischen jüdischem, islamischem und christlichem Glauben, zwischen Atheismus und liberaler Weltanschauung.

IN DEN GLAUBEN HINEINWACHSEN

Schnell ist klar, wie die Rollen in dieser Talkrunde verteilt sein sollen. Martin Mosebach, eingeführt als „originellste Stimme der katholischen Kirche durch seine Forderung nach Wiedereinführung der lateinischen Messe“, spielt den Part des konservativ-katholischen Gläubigen der Runde. Als Gegenüber fungiert Daniel Cohn-Bendit, heute Mitglied des Europaparlamentes, als bekennender Atheist und Materialist („Es geht auch ohne Gott, danke, mir geht es gut.“). Die anderen drei Teilnehmer (Lothar Bisky sagt kurzfristig ab) belegen das Mittelfeld der halb-gläubigen oder halb-atheistischen Positionen und äußern Verständnis mal für die eine oder andere Seite.

„Wir wollen hier keinen missionieren“, machte di Lorenzo gleich am Anfang klar. Das wäre auch schlecht möglich bei einer Zuhörerschaft, die größtenteils bereits die zweite Lebenshälfte erreicht hat. Die vielen Grauhaarigen erwarten eine liberal geführte Diskussion mit Unterhaltungswert. So beklatschen sie im Laufe des Abends häufig die atheistischen und liberalen Ansätze, die sie in ihrer Jugend in der 68er-Zeit gehört und seitdem in der Wochenzeitung immer wieder gelesen haben.

„Was hat Sie in Ihrer Biographie am meisten fasziniert am Glauben?“, so die Einstiegsfrage des Chefredakteurs an die Talkrunde. Der Vertreter der Evangelischen, der Theologieprofessor Friedrich W. Graf, beginnt mit kritischen Äußerungen zu Askese, Moral und der Enge in der bürgerlichen Glaubenswelt seiner Kindheit. Damit beantwortet er zwar nicht die Frage, aber stellt sich immerhin als typischer Protestant vor, der auch gegen die eigene Spiritualität protestiert. Anders Cohn-Bendit. Er fuchtelt mit Armen und Fingern in der Luft herum, schüttelt seine ergraute Lockenpracht: „Ich lebe seit 62 Jahren ohne Religion.“ Die Zuhörer haben auf diese Weise sein Alter erfahren und Kenntnis von einem Gedächtnis, dass anscheinend bis zur Geburt zurückreicht. Seine jüdische Mutter habe es nicht geschafft, in ihm das Bedürfnis zu wecken, sich an Gott zu wenden. Von seinem Vater will der Alt-Revolutionär bei dessen Tod gelernt haben, dass man „auch ohne Gott sterben kann“. Und im Übrigen seien „alle Religionen verlogen“, was an ihrem diskriminierenden Umgang mit den Homosexuellen deutlich werde.

Solchermaßen aufgeklärt, wartet das Publikum gespannt auf den Gegenpart in der Person von Martin Mosebach. Der bekannte Schriftsteller, ein Grandseigneur alter Schule, ist gut gekleidet und erzählt von seiner katholischen Mutter und dem Vater, einem evangelischen Pfarrer. Nach einem „Verblassen des Glaubens“ in der Jugend habe er ein „Wiederhereinwachsen in den Glauben durch die Liturgie“ der katholischen Kirche erlebt. Es sei nicht das Ziel und der Zweck der Religion, dass es einem persönlich gut gehe. Man solle mit der Wahrheit in Berührung kommen, was sehr beunruhigend sein könne. Damit ist der utilitaristischen Lieblingsfrage aller Liberalen, Agnostiker und Atheisten (Was nützt Religion?) die Spitze zunächst abgebrochen.

Die anderen beiden Teilnehmer der Talkrunde äußern sich nicht so dezidiert und verbreiten daher auch mehr Langeweile. Der Journalist Hendryk M. Broder berichtet von seinem jüdischen Hintergrund, woraus er aber wie Cohn-Bendit nahezu keine religiöse Prägung abgeleitet hat. Dafür regt er sich aber über Leute auf, die einen „postmodernen Umgang mit der Religion haben. Heute hier und morgen dort“. Der Orientalist Navid Kermani vertritt in der Talkrunde den islamischen Glauben, obwohl er auch guten evangelischen Religionsunterricht genossen hat, wie er berichtet. Den ersten Lacher des Abends erzielt er dadurch, dass er von einem Lautsprecher unter seinem Studentenzimmer in Kairo berichtet, durch den ein Imam in einem furchtbaren Ton und in aller Herrgottsfrühe jeden Morgen zum Gebet gerufen habe.

Daniel Cohn-Bendit scheint sich bei diesen Ausführungen zu langweilen. „Geht es Ihnen noch gut?“, fragt di Lorenzo. Das ist für ihn das Signal im Stile eines Straßenpredigers loszulegen und die Behauptung „Es geht auch ohne Gott!“ zu wiederholen. Er glaube nur an das, was er sehe und plädiert für einen radikalen Materialismus und die Herrschaft der Vernunft. Zwar sei er – „natürlich als Demokrat!“ – für Religionsfreiheit, gleichzeitig hoffe er aber auf „das Verschwinden aller Religion“. Damit ist er beim Beginn der Aufklärung angelangt. Soll die Religion in Namen der Menschlichkeit wieder an die Kette gelegt, eliminiert werden?

Dem widerspricht Martin Mosebach vehement. Erstens sei nicht alles so real, wie ein Materialist denke, dass es real sei (siehe Platons „Höhlengleichnis“). Zweitens habe es nicht funktioniert, die Religion an die Kette zu legen. Der Laizismus habe in vielen Ländern (etwa Türkei, Iran, Algerien, Frankreich) einen schlimmen religiösen Fundamentalismus und Grausamkeiten hervorgebracht. Mit solchen Thesen ruft der Schriftsteller allgemeine Empörung auf dem Podium hervor. Sie steigert sich noch, als er von einer „Unterwerfung unter Gott“ zu sprechen wagt, die im Kern des Christentums liegen würde. Es gehe in der Religion um Bindung an Gott und nicht um die Selbstautonomie.

Hier ist offenkundig ein altes Dogma von Liberalen, Atheisten und Agnostikern berührt: Darf ich allein entscheiden, was gut und richtig ist, was ich tun oder lassen soll? Oder gibt es eine Autorität über mir, deren Weisungen ich folgen sollte? Mosebach spricht von Demut, vom Menschen als Geschöpf und einer Lebensführung, die letztlich an Gottes Willen ausgerichtet ist. An diesem Punkt ist die Toleranz in der Debatte gefährdet. Wie man eine solche Einstellung heute noch haben könne, Gott sei ein „harter Gott“, ein „Sadist“, der unmenschliche Forderung erhebe und unglaubliches Leid über die Menschen gebracht habe, um sich daran masochistisch zu ergötzen, heißt es.

Der evangelische Theologieprofessor kann über solche Gotteslästerungen nur lächeln. Er regt eine akademische Diskussion über den Gottesbegriff an und preist die Reformatoren als diejenigen, die schon 1526 den „Tod Gottes“ thematisiert hätten. Gott ist für den Theologen eine „Sprachchiffre“ und man müsse halt über dieses „Symbol“ nachdenken. Das Entscheidende sei, den Missbrauch der Religion und ihre Wirkungen zu untersuchen, womit man wieder bei der utilitaristischen Frage angelangt ist.

Damit gibt sich Martin Mosebach nicht zufrieden. Er weist auf den Sündenfall als den Kern allen irdischen Leides hin und wie Gott in Jesus Christus eine Möglichkeit der Umkehr und Heilung geschaffen habe. Eine individuelle Chance des ewigen Heils. Verhindern kann der Schriftsteller damit allerdings nicht eine Diskussion, die ins Uferlose führt und die menschlichen oder unmenschlichen Wirkungen von Religion, von demokratischen, weltanschaulichen oder totalitären Systemen zur Sprache bringt. So schreitet die Zeit des Abends immer weiter fort.

„RELIGION IST NIE COOL“

Die Debatte endet im Stile vieler Talkrunden: Mit vielen gegensätzlichen Meinungen, keinen konkreten Ergebnissen und dennoch größtenteils zufriedenen Zuhörern. Sie sind froh, dass häufiger gelacht werden konnte und die Diskussionsleitung von di Lorenzo tut – auf charmante und gebildete Weise – das Ihrige dazu. Der Chefredakteur will „zwei Atheisten und drei Gläubige“ auf dem Podium gesehen haben – in Wirklichkeit stand wohl eher ein Christ gegen den Rest der Runde. Martin Mosebach hat sich bravourös geschlagen und der zum Schluss immer schweigsamer werdende Daniel Cohn-Bendit wirkt wie ein lebendes Fossil einer vergangenen Zeit. Wein und Brezeln eines Sponsors runden den Abend ab.

Was aber ist von der siebenteiligen Religionsserie der Wochenzeitung zu erwarten? In Interviews, Hintergrundberichten und Analysen wollen sich die Autoren der „Zeit“ ausführlich mit der Faszination des Glaubens und der wachsenden Bedeutung von Religionen beschäftigen. Das Wiedererwachen religiöser Symbolik soll beschrieben werden ohne die Schattenseiten zu ignorieren.

In der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung, wo es auf der Titelseite um das Christentum geht, führen Kardinal Walter Kasper und der Philosoph Peter Sloterdijk ein Streitgespräch über das Für und Wider des Christentums, über das Wiedererstarken des Glaubens und die Auswirkungen auf die westliche Gesellschaft. Dem Kardinal, der für prägnante und publikumswirksame Formulierungen nicht gerade bekannt ist, gelingt mit einem interessanten Satz der Sprung auf die Titelschlagzeile des „Dossiers“: „Religion ist nie cool“.

Mit dieser doppeldeutigen Aussage thematisiert Walter Kasper einerseits das neue „coole“ Interesse an Religion und fokussiert andererseits den Kern des Glaubens, das Feuer der Begeisterung. Auf die Frage des Interviewers, ob der Papst „glühend“ sei oder eher als „cool“ erlebt würde, antwortet der Kardinal: „Religion ist nie cool – Religion macht glühend.“ Und er erinnert an die Menschen, die in der Liebe zu Gott erglühen und „im Einsatz für andere sogar verglühen“. Damit trifft er eine Sehnsucht nach einer Glückseligkeit, die heute immer mehr Menschen erfasst, die spüren: Ohne Gott geht es nicht!

[Modificato da @Andrea M.@ 13/02/2007 9.05]

12/03/2007 20:13
 
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Ein Besuch bei Kardinal Lehmann
Aus dem Mai-Heft 2006

Warum Heidegger, Exzellenz?

Von Jürgen Busche

Sein Bischofswappen zeigt ein aufgeschlagenes Buch: Signal nicht nur der Biblischen Botschaft, sondern auch der bibliophilen Neigung des Kardinal Lehmann.

Es war ja“, sagt Karl Kardinal Lehmann, „ein Berufswechsel.“ Bis 1983 Professor für Dogmatik in Freiburg, ein Gelehrter von hoher Reputation, dann Bischof in Mainz, bald darauf Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz, bis heute. Am 16. Mai wird er siebzig Jahre alt. Ein wenig stolz, aber auch wehmütig steht er vor der Bücherwand, die allein den Werken Martin Heideggers gewidmet ist – die Einzelausgaben seit den fünfziger Jahren, die viel benutzte Gesamtausgabe mit jetzt schon siebzig Bänden, die Schriften anderer Autoren zum Werk des südwestdeutschen Landsmannes. Liebevoll holt Lehmann die Bücher mit den Widmungen hervor, ausführliche Widmungen, in penibler Handschrift eingetragen in „Vorträge und Aufsätze“ und „Aus der Erfahrung des Denkens“, Ermutigung und Anerkennung für den jungen Theologen, der sich so intensiv mit Heideggers Gedanken von einst beschäftigte. Lehmanns zweibändige, an der Päpstlichen Universität Gregoriana erstellte und 1962 angenommene Doktorarbeit „Vom Ursprung und Sinn der Seinsfrage im Denken Martin Heideggers“ ist 2003 in Mainz neu aufgelegt worden, sie ist über 800 Seiten stark.

Das erste, vom eigenen Taschengeld gekaufte Buch? Ist das auch noch da? Der Kardinal nimmt eine Hand voll grauer Hefte aus dem Regal und geht sie durch. „Da ist es!“ Heideggers Freiburger Antrittsvorlesung von 1929 in einer Ausgabe aus den fünfziger Jahren: „Was ist Metaphysik?“ Ein wenig Herumblättern. „Ich habe es mir gekauft, weil mein Deutschlehrer, der uns auch Philosophie nahe brachte, mich auf Heidegger hingewiesen hat. Ich habe es immer wieder gelesen – und nichts verstanden.“ Demnächst wird Lehmann zum 30.Todestag des Denkers in Messkirch, seinem Geburtsort, die Gedenkrede halten. Wer die katholische Polemik gegen Heidegger, etwa in den „Philosophischen Jahrbüchern“ der Görres-Gesellschaft Ende der vierziger Jahre kennt, mag das für erstaunlich halten. Aber immerhin hat Lehmanns römische Dissertation von 1962 einiges geändert.

Der Gebäudekomplex am Mainzer Bischofsplatz zeigt nach außen alte und schön erhaltene Gemäuer. Im Inneren aber steht, etwas seitlich, auf einem Platz, ein relativ modernes, zweigeschossiges Haus. Hier wohnt Lehmann. Das Haus ist vom Keller bis zum Dachgeschoss angefüllt mit Büchern. Da gibt es im Parterre einen lang gestreckten, sehr gepflegten, freien Raum für offizielle Gespräche in privater Umgebung. Hier sind die Wände vornehmlich mit theologischen Werken zugestellt, mit kirchenamtlichen Schriften – die Bände der „Acta Apostolica Sedes“, das Amtsblatt des Vatikans, daneben Lexika, aber auch schon Philosophie: von den Vorsokratikern bis Cicero, dann von Boethius ins Mittelalter und schließlich Hegel, Hegel, Hegel.
Im Keller ist Historisches zu finden, aber auch Zeitschriften aus allen Lebensabschnitten des Besitzers, ganze Reihen und einzelne Hefte. „Hier komme ich jeden Tag mal rein“, sagt der Kardinal, „oft in der Nacht.“

Unter dem Dach, in einem großen Raum, den man kaum betreten kann, weil der Boden übersät ist mit Büchern, Sonderdrucken und Manuskripten, befindet sich an der einen Querseite die Kunstgeschichte, an der anderen die schöne Literatur. Ein Schreibtisch findet sich an der Rückseite, der breiten Fensterfront gegenüber. So überladen, wie er ist, kann er nicht mehr benutzt werden. Schon der Weg dorthin ist mühselig wegen der vielen Deposita. Bei der Belletristik steht vieles von Peter Handke, fast alles von Botho Strauß. Celan hat Lehmann in Einzelbändchen und in der Gesamtausgabe. Von den Frauen sind stark vertreten Ingeborg Bachmann und Christa Wolf. Aber auch Nelly Sachs, für die Lehmann Gefühle der Verehrung hegt. Reinhold Schneider fehlt nicht, von ihm schätzt der ehemalige Freiburger am meisten das nachdenkliche Buch „Winter in Wien“. Und Rilke, die „Duineser Elegien“. Aus frühen Tagen sind hier aufbewahrt das Rowohlt-Taschenbuch von Wolfgang Borchert „Draußen vor der Tür“ und das Ullstein-Taschenbuch „Provoziertes Leben“ von Gottfried Benn. „Benn ist aber nicht so mein Fall“, bemerkt Lehmann. „Dann schon eher Ernst Jünger“, dessen fünfbändiges Alterstagebuch „Siebzig verweht“ ins Auge sticht: „Ich schätze ihn wegen der Klarheit des Stils, der Sprache.“

Zum Arbeitszimmer im ersten Stock mit seinen aktuellen theologischen Büchern führt ein ebenso mit Büchern überladener Flur. Vor der Eingangstür rechts, ganz unten, ist der Platz für den gelehrtesten seiner Vorgänger, der Abt in Fulda gewesen war, bevor er 847 Bischof in Mainz wurde: Rabanus Maurus. Er gilt heute als der erste, dem der Titel „Praeceptor Germaniae“ gebührt, Lehrer und Vordenker Deutschlands. Im Arbeitszimmer, das so voll gestopft ist wie die Feuilletonkammer eines Redakteurs vom legendären Prager Tagblatt, zeigt Lehmann mit Behagen das Buch des Professor Ratzinger, „Einführung in das Christentum“, mit Widmung an den Kollegen. In diesem Raum dominieren Hans Urs von Balthasar und Karl Rahner, dessen Mitarbeiter über Jahre hinweg Lehmann als junger Gelehrter war. Hier sind Henri de Lubac, der bedeutende jesuitische Reformdenker, und Erik Peterson versammelt, dessen Werke Lehmanns einstige Assistentin Barbara Nichtweiß herausgibt. Und Hans Küng. „Er hat etwas geleistet“, sagt der Kardinal. Dann verweist er auf das Konziltagebuch von Yves Congar. „Leider nur französisch. Eine deutsche Übersetzung erscheint zu teuer.“ Auf einem der hohen Bücherstapel, die den Schreibtisch unsichtbar machen, liegt ein postgelbes Reclambändchen – Wilhelm Hauff: „Das kalte Herz“.

Im Raum der Philosophie stehen die Regale dicht an dicht wie in einem Magazin – Altes, etwa dreißig Bände der Taschenbuchreihe „Rowohlts deutsche Enzyklopädie“ (rde), wie Neues: fast vollständig die Reihe „Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft“ (stw). Bei näherem Hinsehen treten manche Namen deutlich hervor: Hannah Arendt, Hans Blumenberg, Hans-Georg Gadamer, Josef Pieper stehen auf einem obersten Brett, schwer erreichbar. Sartre? „Sartre gibt es hier auch irgendwo“, knurrt Lehmann, „wichtiger ist mir Simone Weil.“ Und Emmanuel Lévinas, dessen Schriften zweieinhalb Fächer füllen. Und Buber und Rosenzweig und Foucault. Auch die „Frankfurter Schule“ ist stattlich vertreten: „Habermas habe ich von der Schelling-Studie an.“ Ethik, Moral und Moralphilosophie haben ihren eigenen Raum. Hier gibt es die Nachbarschaft von Oswald Nell-Breu-nig und Ulrich Wickerts „Die Tugenden“. Wieder an anderer Stelle müssen es Carl Schmitt und Walter Dirks, Hans Maier und Ernst-Wolfgang Böckenförde miteinander aushalten.

Wo aber die Philosophie Lehmanns wichtigste Autoren beieinander hat, herrscht Heidegger. In den Fächern sind seine Bücher so unordentlich gestellt, dass man auf lebhaften Gebrauch schließen muss. Für die Philosophie gewann den Schüler am Sigmaringer Gymnasium der Deutschlehrer Rudolf Nikolaus Maier. Aus der verwirrend gefüllten Regalwand im Flur vor seinem Arbeitszimmer hat Lehmann ein Buch von ihm herausgezogen, „Das moderne Gedicht“. Er schlägt es auf und verweist auf eine Stelle gegen Ende des Vorworts: „Doch was gibt es Moderneres als Heideggers Bemühungen um die Wahrheit des Seins.“ So der „wichtigste Lehrer“ , wie Lehmann ihn nennt, 1959. Um diese Zeit begann der Theologiestudent in Rom mit seiner Dissertation, für die er drei Jahre freigestellt wurde.

Es gibt im Haus des Kardinals auch ein Wohnzimmer ohne Bücherregale. Aber nicht ohne Bücher. Es ist vielleicht ein Dutzend, und sie stehen repräsentativ in einer Schrankwand: Eine schöne Tacitus-Ausgabe von 1606 ist darunter, einige alte Bände eines Sammelwerks über die „Häresien“ und die Schrift eines der bedeutendsten von Lehmanns Vorgängern in Mainz: Bischof Kettelers „Freiheit, Autorität und Kirche“ von 1862. Vor den alten Gemäuern, die Lehmanns Haus umgeben, mitten auf dem Bischofsplatz ist ein Ketteler-Denkmal, eine Skulptur neueren Datums. Es wirkt wie eine Mahnung.

Quelle: Cicero - Magazin für politische Kultur

[Modificato da @Andrea M.@ 12/03/2007 20.20]

12/03/2007 20:42
 
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Ein Besuch bei Kardinal Lehmann
Klingt für mich himmlisch - und sehr vertraut. Bei mir kann man manchmal auch nicht treten, weil ich die Bücher, die ich gerade lese, immer herumliegen lasse... [SM=g27813]

Frage: Wo ist eigentlich unser studiosus geblieben (fällt mir ein, weil er diesen Thread eröffnet hat)? Ich hab' lange nichts mehr von ihm gehört
18/03/2007 15:00
 
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Re: Ein Besuch bei Kardinal Lehmann

Scritto da: ingaH 12/03/2007 20.42
Klingt für mich himmlisch - und sehr vertraut. Bei mir kann man manchmal auch nicht treten, weil ich die Bücher, die ich gerade lese, immer herumliegen lasse... [SM=g27813]

Frage: Wo ist eigentlich unser studiosus geblieben (fällt mir ein, weil er diesen Thread eröffnet hat)? Ich hab' lange nichts mehr von ihm gehört




Rieccomi *schäm*


Bin grad das erste Mal seit *hüstel* Wochen dazugekommen wieder mal ins Forum zu sehen... habe eh schon ein ganz schlechtes Gewissen gehabt [SM=g27821] [SM=g27822]

Hab heute den ersten "freien" Sonntag seit ewig, und kämpfe mich grad durch die Beiträge der letzten Wochen... naja, ich hoffe doch daß ich jetzt wieder etwas präsenter sein kann [SM=g27829]


lg, studiosus
18/03/2007 17:11
 
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studiosus,

aber du mußt doch kein schlechtes Gewissen haben......ist doch schön, wenn man vermisst wird. [SM=g27823]
03/10/2007 16:41
 
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Aus einer alten Ausgabe des Magazins der Süddeutschen Zeitung:

EINES SEINER LIEBLINGSWORTE IST »REINIGUNG«

Nun, nicht direkt Fragen an den Papst, denn Benedikt XVI. hält sich in persönlichen Dingen bedeckt. Deshalb gibt uns über ihn sein Freund und Biograf Auskunft.

Von Peter Seewald

Bildunterschrift: Ratzinger hat nie geraucht, trinkt Wein und Bier höchstens in homöopathischen Dosen. Um Schnaps hat er zumindest einmal gewettet.

1. Macht der Vatikan einsam? Kann man nicht behaupten: Im päpstlichen Haushalt arbeiten drei Ordensschwestern, ein Kammerdiener und zwei Privatsekretäre. Beim Sonntagsblick aus dem Fenster konnte Benedikt in den ersten fünf Amtsmonaten 600000 Gäste begrüßen: Besucherrekord. Doch abends machte er sich mitunter davon, um einige Stunden in der alten Wohnung zu sein.

2. Was fehlt ihm am meisten? Johannes Paul II., Spaziergänge im alten Wohnviertel Borgo Pio, Urlaub mit Bruder Georg in Bad Hofgastein.

3. Hat der Papst Laster? Er geht jedenfalls beichten, denn er sei »genauso schwach wie die anderen«. Ratzinger hat nie geraucht, trinkt Wein und Bier höchstens in homöopathischen Dosen. Um Schnaps hat er zumindest einmal gewettet: Ein irischer Journalist war überzeugt, der Deutsche würde eines Tages auf dem Heiligen Stuhl landen. Im Begleitbrief zu einer Flasche Old Bushmills Irish Whiskey las er später: »Seine Heiligkeit erinnert sich an die Wette.«

4. Woher kommen die Augenringe? Wojtyla war 58, als er Papst wurde, vital und kräftig – Ratzinger 78 und von Natur kein Herkules. Und ein Papst leitet immerhin die größte Organisation der Welt.

5. Macht Benedikt es anders? Ja, auf subtile, bedächtige Art. Er schaffte den Handkuss ab, ersetzte die Tiara im Wappen (Symbol für weltliche Macht) durch eine schlichte Bischofsmütze und verzichtete auf den Titel »Patriarch des Abendlandes« – eine Geste an die Ökumene. Synoden wurden verkürzt, Reden reduziert. Wojtyla hatte sich angewöhnt, in der Einzelperson zu sprechen, Ratzinger führte nach dem »Ich« wieder das »Wir« ein, um bischöfliche Kollegialität in den Vordergrund zu stellen.

6. Was sind seine Themen? Er geht ans Eingemachte und will ein müdes Christentum aus der Lethargie reißen. Eines seiner Lieblingsworte ist »Reinigung«; es gilt vor allem für die Kirche selbst. Jesus sei Unruhestifter – eine Wohlfühlkirche verkenne dies. Ziel in der Ökumene sei »die Wiederherstellung der vollen und sichtbaren Einheit«.
7. Was unterscheidet ihn von Johannes Paul II.? Weniger, als man denkt. »Ich höre ihn und ich sehe ihn sprechen«, berichtet er, »wir sind nahe beieinander in einer neuen Art.« Kaum ein Pontifex stand zu Beginn im Zeichen eines solchen Lichtes, entflammt durch das riesige Erbe des Vorgängers. Ratzinger schafft nun eine nahtlose Fusion zweier Pontifikate, die niemand für möglich hielt.

8. Wie sieht ein typischer Papsttag aus? Der Papst steht um sechs auf, hält Gottesdienst in der Privatkapelle, frühstückt und begibt sich in seine Arbeitsräume. Mittwochs gibt er Generalaudienz, sonntags den Angelus-Segen. Er gibt Kommunionsunterricht, besucht Kranke, tauft Neugeborene, empfängt Botschafter, Regierungschefs und Rabbis. Anders als Wojtyla hat Ratzinger selten Gäste beim Essen – und liegt früher im Bett.

9. Ein Satz über Benedikt? »Er weiß, wie man Tore schießt. « (Giovanni Trapattoni)

10. Ein Satz von Benedikt? »Nach dem Guten streben, nicht nach dem Profit. «

11. Was bedeutet die Enzyklika Deus caritas est? Sie gilt als Notenschlüssel seines Pontifikats. »Es ist ein Hohelied der Liebe«, befand der Spiegel. In »Gott ist Liebe« fordert der Papst eine Befreiung des Eros aus der Gefangenschaft des Beliebigen. Das »›Ja‹ des Menschen zu seiner Körperlichkeit« habe »in der unauflöslichen Ehe zwischen Mann und Frau seine in der Schöpfung verwurzelte Form« gefunden.

12. Für wen betet der Papst? Abhängig vom Weltgeschehen für Frieden im Irak, für die Opfer von Bad Reichenhall, für Abdul Rahman. Für den April lautet das offizielle Gebetsmotto des Papstes, dass die »Rechte der Frau in allen Ländern respektiert werden«.

13. Was mag er überhaupt nicht? Messen, die handgestrickt und selbstgebastelt wirken.

14. Was macht er mit dem iPod, den man ihm schenkte? Ratzinger ist technisch vollkommen unbegabt. Einen iPod kann er vermutlich nicht bedienen. Lieber spielt er selbst auf seinem alten Piano, mit Vorliebe Mozart, Bach und Palestrina.

15. Wie will er in die Geschichte eingehen? Das überlässt der Bayer einer anderen Macht. »Dass einem polnischen Papst auf dem Stuhl Petri ein Bürger aus Deutschland gefolgt ist«, merkte er jedoch geheimnisvoll an, könne man kaum anders verstehen »als im Licht eines göttlichen Plans der Vorsehung.« Mit dem ihm eigenen Stil und dem Charisma des geborenen Lehrers will er jedenfalls die wahren Probleme der Kirche angehen, die er nicht in Zölibat und Frauenordination sieht, sondern in Überinstitutionalisierung, Verlust an Glaubensleben und Mangel an gesellschaftspolitischem Engagement.

16. Und was wird von ihm bleiben? Mit Benedikt XVI. beginnt eine neue Konzentration auf Christus selbst. In der Sinnkrise unserer Zeit formuliert der Vatikan als neuer »Club of Rome« das Konzept einer gesünderen Gesellschaft. Durch die kontinentale Kräfteverschiebung in der Weltkirche ist der Deutsche vermutlich für lange Zeit der letzte Europäer als Bischof von Rom.

17. Was kann er am besten? Zuhören. Abwarten. Heilige Messen feiern.

18. Was kann er am schlechtesten? Loben. In Texten auf akademischen Stil verzichten. Personalfragen entscheiden.

19. Gibt es eine christliche Renaissance? Nicht als massenhafte Blitz-Umkehr. Der Verlust an christlichem Bewusstsein ist zu weit fortgeschritten, als dass die Volkskirchen aus ihrer »abgrundtiefen Krise« (Benedikt) schnell herauskommen könnten. Für Modernität steht künftig nicht mehr eine Theologie der Befreiung, sondern eine … der Frömmigkeit.

20. Wollte er wirklich nicht Papst werden? Nein. Er träumte von einem Seniorenstudium und dem »ruhigen Ausklang meiner Tage«. Als Präfekt der Glaubenskongregation hatte er mehrmals seinen Rücktritt eingereicht. Als er das »Fallbeil« im Konklave auf sich zukommen sah, habe er »mit tiefer Überzeugung zum Herrn gesagt: ›Tu mir dies nicht an!‹« Es war vermutlich nicht das erste Mal, dass der Herr Ratzinger nicht gehorchte.

21. Ist der Papst reaktionär? Nein, aber konservativ im Sinne der Bewahrung der Schöpfung. Viele Ansichten, etwa zu Homo-Ehe oder Abtreibung, bleiben provozierend.

22. Ist er ein Revolutionär? Ja, im Sinne der Protestbewegung Jesu. Als Kardinal forderte er eine »Revolution des Glaubens«. Als Papst betitelte er sein erstes Buch mit Gottes Revolution. Benedikt attackiert die »Spießigkeit einer Habsuchtgesellschaft« und fordert einen anderen, unangepassten Lebensstil.

23. Wird Benedikt die Pille erlauben? Niemals. Die Kirche setzt auf natürliche Methoden.

24. Was denkt er über den Islam? Der christliche Respekt vor dem anderen gilt natürlich auch für den Islam: »Die Früchte des Glaubens an Gott bestehen nicht in zerstörerischen Feindschaften, sondern im Geist der Brüderlichkeit.« Scharf verurteilte der Papst die Welle der Gewalt nach dem Streit um die Mohammed-Karikaturen.

25. Kann er die Rückkehr der Glaubenskriege verhindern? Er wird es zumindest versuchen: »Gott ist Liebe«, nicht Krieg. Auch kein Irakkrieg, den der frühere Kardinal scharf verurteilte. »Terrorismus, Nihilismus und fanatischer Fundamentalismus« seien die gefährlichsten Hindernisse für den Frieden. Jesus lehre, wie man Frieden macht: durch »Dialog, Vergebung, Solidarität«.

26. Warum darf jetzt jeder zum Papst? Den so genannten Audienztourismus gibt es nicht. Benedikt hat vieles kürzer und prägnanter gemacht, auch Privataudienzen. Der Empfang für Laura Bush nebst Tochter Barbara dauerte 15 Minuten, die Begegnung mit Franz Beckenbauer (»der Höhepunkt meines Lebens«) gerade mal 48 Sekunden.

27. Seine verblüffendste Einladung? Das Treffen mit Kritiker Hans Küng, dem von Johannes Paul II. die Lehrbefugnis entzogen wurde. Küng hatte Ratzinger als »gefährlichen Großinquisitor« gegeißelt.

28. Wenn er privat nach München käme, was würde er machen? An der Mariensäule seiner Bischofsweihe gedenken, sich in der Frauenkirche das neue Papstrelief von Josef Henselmann ansehen und in Bogenhausen die Pfarrei besuchen, in der er als Kaplan Unterricht gab. Dann ginge er ins »Weiße Bräuhaus«, um sich am »Vatikanstammtisch« eine nicht allzu kühle Fanta zu genehmigen.

29. Hat er sich verändert? Ja und nein. Unvorstellbar bislang, Ratzinger könnte Babys knutschen und Kardinäle in die Wange kneifen. Doch paradoxerweise kann sich in Papst Ratzinger offenbar auch der Mensch Ratzinger besser zum Ausdruck bringen. Anfangs wirkte er unbeholfen und müde, inzwischen regiert er mit Freude und lernt sogar Massenevents zu schätzen.

30. Kleine Missgeschicke? Bei einem Treffen in Köln wird ihm Pelé vorgestellt, ein gläubiger Katholik. Seiner Heiligkeit ist die Fußball-Legende nicht geläufig: »Und Sie sind Brasilianer…?«

31. Treibt der Papst Sport? Nur Bergwandern. Neu ist ein Trimmrad, das Leibarzt Buzzonetti (82) in die Gemächer stellte, aber fraglich ist, ob der Papst noch radelt. Als Schüler nannte er Sport »Folter«, für die Fußball-WM wird ihm Privatsekretär Gänswein vor wichtigen Spielen aber den Fernseher einschalten. »Die deutsche Mannschaft«, sprach der Pontifex zu Kaiser Franz, »ist doch sehr gut. «

32. Was trägt der Papst privat? Sicher keine roten Pantoffeln oder die hermelinbesetzte Haube (Camauro) von Johannes XXIII. Früher liebte er einen einfachen Anzug mit Priesterkragen, an kalten Tagen seine Baskenmütze – und den abgewetzten schwarzen Pullover, der noch beim »Habemus papam« unter dem päpstlichen Kleid hervorlugte.

33. Welches Geheimnis würde er nie preisgeben? Ein Beichtgeheimnis.

34. Wie mächtig ist der Pontifex? Formal ist Ratzinger der mächtigste Deutsche aller Zeiten, Oberhaupt von 1,1 Milliarden Katholiken, rund 4700 Bischöfen, 406000 Priestern. Keine Institution ist besser vernetzt, hat mehr Niederlassungen – und eine stärkere Corporate Identity (»im Auftrag des Herrn«). Würden ihre Glieder gemeinsam handeln, könnten sie Wahlen entscheiden und Gesellschaften verändern.

35. Seine Lieblingsredewendung? »Ich würde sagen …«

36. Wie steht es um seine Akzeptanz? Sein Image hat sich spätestens seit dem Weltjugendtag radikal gewandelt. Die Messe mit 1,1 Millionen Teilnehmern in Köln habe eine »brand community« um die Marke »Papst« gebildet, so der Bremer Medienforscher Andreas Hepp. Benedikt genieße Glaubwürdigkeit und werde nunmehr »grundsätzlich positiv aufgenommen«.

37. Sind wir jetzt alle Papst? Es gibt zumindest eine Wechselwirkung zwischen Nation und Papsttum. In Polen wurde das realisiert, in Deutschland noch nicht. Seit Ratzinger auf dem Stuhl Petri sitzt, stürzte immerhin die Regierung, gibt es weniger Kirchenaustritte und mehr Rückkehrer und Übertritte.

38. Ist Benedikt Deutschland? In gewisser Weise schon. Ratzinger stammt aus dem Land von Kirchenspaltung, Marxismus und Holocaust – aber auch von Theologie und Wiedervereinigung. Er durchlebte Aufstieg und Niedergang der Moderne; heilsgeschichtlich betrachtet muss es kein Zufall sein, wenn ein Deutscher Stellvertreter Christi wird.

39. Was sagen die Sterne? Für Astrologen (Meridian 4/2005) ist Benedikt »ein alter Mann, dem nicht viel Zeit für sein Wirken bleiben wird«, der aber »innerhalb kurzer Zeit deutliche Spuren hinterlassen« werde.

40. Wie stellt er sich Gott vor? Genau wie Jesus Christus. Am 20. April 2000 sagte Joseph Ratzinger im SZ-Magazin: »In seinem aufgerissenen Leib am Kreuz sehen wir, wie Gott ist, dass er sich bis zu diesem Punkt für uns verausgabt … Er hat sich auf die Seite der Unschuldigen und Leidenden gestellt – und möchte auch uns dort sehen.« Fazit: »Gott wird klein, damit wir ihn fassen können. Er kommt als jemand, der an unser Herz rührt.«

[Modificato da @Andrea M.@ 03/10/2007 16:50]
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